Die gefährlichsten Auswirkungen einer Systemkrise zeigen sich an den Rändern. Die Metropole London würde den Brexit wahrscheinlich ganz gut überstehen. Die unmittelbarsten Gefahren drohen in Irland. In Irland sind die Hoffnungen auf ein „People`s Vote“, das die Befürworter eines zweiten Referendums verlangen, dementsprechend am größten. Der Parteitag der oppositionellen Labour Party diskutiert diese Woche erstmals die Option.
Auf der grünen Insel trennen keine Grenzkontrollen die Bürger der Republik Irland und die zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordiren. Europa hat den irischen Friedensprozess gefestigt. Terrorismus und Gewalt durch die katholische IRA und protestantische Milizen sind ferne Vergangenheit.
Nach dem Brexit würde die Außengrenze der EU quer durch die befriedete Insel führen. Niemand weiß, wie die Auswirkungen auf das labile Gleichgewicht zwischen den Religionsgemeinschaften wäre. „No EU frontier in Ireland. No Hard boarder“ ist auf riesigen Plakaten am Straßenrand zu lesen.
Alle Bemühungen in der Irlandfrage zu einem Kompromiss zu kommen, sind bisher gescheitert. London lehnt den Vorschlag von EU-Chefverhandler Barnier ab, dass Nordirland auch nach dem Austrittdatum des 29.März in der Zollunion bleiben soll. Premierministerin Theresa May kann sich keinen Kompromiss leisten, der wie der Anfang vom Ende des Vereinigten Köngreichs aussieht.
Eine Sonderregelung, nach der Unternehmen aus Nordirland in Zukunft ohne europäisches Regelwerk Zugang zum gemeinsamen EU- Markt haben sollten, wie London fordert, ist wiederum für Brüssel inakzeptabel. Nordirland würde zu einem Einfallstor für Firmen, die in der EU agieren, ohne sich an europäische Vorgaben zu halten.
Erstmals gibt es auch unter den 27 EU-Staaten Meinungsverschiedenen über Brexit. Polen und Ungarn wollen die harte Haltung von Chefverhandler Barnier aufweichen. Ungarns Premier Orban warnt davor, die Briten durch Unnachgiebigkeit zu bestrafen. Polnische Diplomaten lassen wissen, dass Warschau das Mandat für die EU-Verhandler aufweichen will.
Im Europaparlament bilden die Abgeordneten der polnischen Regierungspartei PIS und die britischen Torys die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer. Polnische Nationalkonservative und Orbans Fidesz vertreten so wie die Briten die Ansicht, dass sich die EU als Wirtschaftsgemeinschaft und nicht als politische Union verstehen soll.
Die Entfremdung zwischen der nationalkonservativen polnischen Führung und der EU hat inzwischen auch die Sicherheitspolitik erreicht, zusätzlich zur Auseinandersetzung um Grundrechtsfragen. Präsident Duda versucht eine Sonderbeziehung zur amerikanischen Administration aufzubauen. In Washington schlug er dem US-Präsidenten die Errichtung einer amerikanischen Militärbasis auf polnischem Territorium vor. Sogar einen Namen hat Duda schon: Fort Trump soll die Basis heißen. Dass damit die europäischen Partner übergangen werden und eine permanente US-Militäreinrichtung in Osteuropa der Russland-NATO-Grundlagenakte widerspricht, ist der polnischen Regierung egal.
Frankreichs Präsident Macron donnerte in Salzburg, wer behaupte, es sei ganz einfach sich vom europäischen Integrationsprozess abzulösen, sei ein Lügner. Der Franzose will in Zukunft Zahlungen aus dem EU-Budget von der aktiven Solidarität der Empfängerländer abhängig machen. Macron erhöht damit den Druck in der Flüchtlingspolitik auf die Regierungsparteien in Warschau und Budapest, für die europäische Gelder lebenswichtig sind. Neue Strafzahlungen sind keine gute Idee. Nationalistischer Streit wäre vorprogrammiert. Aber Macron hat auch recht, dass es ärgerlich ist, wenn Gelder aus Brüssel an notorische EU-Skeptiker gehen.
Klüger ist das Eingeständnis, dass von der Migration bis zur Sicherheitspolitik neue Herausforderungen mit einer Reihe von Mitgliedsstaaten nicht zu machen sind, egal wie der Brexit aussehen wird. Ein Gegengewicht zum drohenden Abgang der Briten wäre die von Frankreich befürwortete Bildung eines Kerneuropas von integrationswilligen EU-Staaten, die zu engerem politischen Zusammenschluss bereit sind. Großbritannien könnte man einen Brexit light anbieten, für den gemeinsam mit Polen und Ungarn der Binnenmarkt im Zentrum steht. Auch für Irland wäre eine Lösung um vieles leichter möglich.
In Salzburg hatten die Österreicher den negativen Vibes, die vom Stillstand in der Integration ausgehen, wenig entgegen zu setzen. Die Sorgen vor einem fortgesetzten Zerfallsprozess überwogen. Aber in Großbritannien werden die Befürworter eines zweiten Brexit-Referendums immer mehr, wie auf dem Labour-Parteitag diese Woche deutlich zu spüren ist. Ein Happy End ist zumindest nicht völlig ausgeschlossen. Die Chance dazu besteht nur, wenn sich die Europäische Union insgesamt neu aufstellt.