Die Schlacht um Idlib droht zu einer humanitären und politischen Katastrophe zu werden

Im Nordwesten Syriens hat der Angriff auf die letzte Bastion der sunnitischen Rebellen begonnen. Russische Kampfflugzeuge, syrische Regierungstruppen und regimetreue Milizen belagern den Bezirk Idlib. Fast drei Millionen Menschen sind eingekesselt. Abgesehen von dem einige hundert Kilometer weiter im Nordosten liegenden Kurdengebiet herrscht sieben Jahre nach Beginn der Aufstandsbewegung überall wieder Machthaber Baschar al Assad.
Ob der syrische Bürgerkrieg mit einem Blutbad endet oder ob die mit den Rebellen verbündete Türkei doch noch Verhandlungen durchsetzen kann, entscheidet sich in diesen Tagen. Bei einem Gipfeltreffen in Teheran ist Präsident Erdogan mit der Forderung nach einem Waffenstillstand gescheitert. Die Vereinten Nationen warnen vor der größten humanitären Katastrophe seit Beginn der Kämpfe.
Wie ein Krieg zu Ende geht bestimmt für lange Zeit das Schicksal eines Landes.
Experten internationaler Hilfsorganisationen erinnern an die letzte Phase des Widerstandskampfes der Tamilen in Sri Lanka vor zehn Jahren. Der harte Kern der Tamil Tigers, eine Guerillaorganisation mit Jahrzehnte langer Tradition, kämpfte im Kerngebiet der Minderheit ums Überleben. Zehntausende tamilische Zivilisten standen auf der Seite der Rebellen. Der Endkampf wurde zum Massaker. Die singhalesische Armeeführung tötete alle Frauen und Männer, die als Tamil Tigers angesehen wurden. Die Überlebenden kamen in Lager. Zu einer Versöhnung zwischen der singhalesischen Mehrheit und der tamilischen Minderheit ist es bis heute nicht gekommen.
Die syrische Konstellation ist noch düsterer, weil die Mehrheitsverhältnisse zwischen den Volksgruppen genau umgekehrt sind. Mit Assad siegt die religiöse Minderheit der Alawiten, auf die sich das Regime stützt, über die sunnitische Mehrheitsbevölkerung. Die militärische Unterstützung aus dem Ausland, aus Russland und dem Iran, hatte das militärische Kräfteverhältnis verändert.
Die Regierungstruppen haben bei ihrem Vormarsch in Aleppo und im Umkreis von Damaskus den Aufständischen wiederholt freies Geleit nach Idlib gewährt. Tausende Kämpfer entgingen der Kriegsgefangenschaft, indem sie in die Rebellenhochburg zogen. Jetzt stehen bis zu 60 000 bewaffnete Kämpfer mit dem Rücken zur Wand, so wie einst die Tamil Tigers in Sri Lanka.
Die wichtigste Rebellenorganisation in Idlib ist die dschihadistische Allianz Hayat Tahrir al-Sham HTS, die aus Al Kaida hervorgegangen ist. Auch prowestliche und protürkische Gruppen kontrollieren Teile des Bezirks. Islamistische Legionäre aus aller Welt haben sich dem Kampf angeschlossen. Aber die Milizen sind untereinander zutiefst zerstritten. Den Aufständischen fehlt ein gemeinsames Oberkommando.
Europäer und Amerikaner appellieren an Russland, ein verheerendes Showdown zu verhindern. Putin hat die Macht ein Veto einzulegen. Ohne russische Luftangriffe gegen Idlib würden die Regierungstruppen keinen Angriff wagen. Bei dem Gipfeltreffen in Teheran letzte Woche kam der türkische Präsident Erdogan mit seinen Einwänden bei Putin allerdings nicht durch. Zu den Verlierern einer Schlacht um Idlib würde auch die Türkei gehören. Hunderttausende zusätzliche Flüchtlinge könnten ins Land kommen. Eine weitere Destabilisierung der Region als Folge eines militärischen Sieges Assads in Syrien ist die Horrorvision der Nachbarstaaten.
Die Machtmittel des Westens sind beschränkt. Die USA und Frankreich drohen mit Militärschlägen, sollte Assad wieder Giftgas einsetzen. Mehr als punktuelle Luftangriffe sind jedoch nicht vorstellbar. Zu groß ist das Risiko, dass russische Soldaten getroffen werden und eine symbolische Strafaktion zu einem Konflikt der Großmächte wird. Russland hat Kriegsschiffe und U-Boote ins östliche Mittelmeer verlegt. Die Europäer warnen, dass eine finanzielle Beteiligung der EU am Wiederaufbau Syriens, die Russland nach dem Ende der Kämpfe wünscht, durch ein Blutbad in Idlib unmöglich gemacht würde.
Putin hat die Möglichkeit vor Augen, geopolitisch durch einen Endsieg mit Assad gegenüber dem Westen zu punkten. Nach dem Einmarsch auf der Krim wäre ein russischer Triumph im Nahen Osten der zweite militärische Coup auf dem Weg zum Comeback Russlands als Weltmacht. Dass Putin den Aufmarsch gegen Idlib noch stoppt ist unwahrscheinlich.
Für hunderttausende Eingeschlossenen wird internationaler Druck eine Überlebensfrage sein, damit die Kriegsparteien die Bevölkerung nicht als Geiseln nehmen. Die Europäer könnten bald gefordert sein, Korridore für Zivilisten zu errichten und möglicherweise auch selbst wieder Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. In der letzten Schlacht drohen alle Katastrophen des Syrienkrieges noch einmal zusammenzukommen.

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