Die Konterrevolution marschiert. Im dritten Jahr nach dem Beginn des arabischen Frühlings gewinnen die alten Mächte Boden. Das Baath-Regime in Syrien hat sich stabilisiert. Die Aufständischen mussten wichtige Positionen räumen. Noch vor einem Jahr wollte der Westen die Beseitigung Assads zur Vorbedingung von Verhandlungen machen. Jetzt muss der amerikanische Generalstabschef Martin Dempsey zugeben, dass der syrische Diktator höchstwahrscheinlich in einem Jahr noch an der Macht sein wird. Die Kontrolle über wichtige Teile des Landes wird das Regime behalten, glaubt der oberste Militär der USA.
In Ägypten hat der Putsch der Armee ein Blutbad ausgelöst. Die Hoffnung, die Entmachtung der Moslembrüder könnte eine Zwischenetappe zu einer Regierung aufgeklärter Zivilisten werden, muss man begraben. Das Ziel der Militärs ist klar: die islamistische Partei, die immerhin die einzigen freien Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, soll gründlich zerschlagen werden. Der Schauprozesse, den die Machthaber gegen Mohammed Mursi vorbereiten, soll zum Symbol des Untergangs der Moslembrüder werden.
Der Coup kann nicht gelingen. Die Islamisten haben katastrophal regiert. Aber sie sind fest in der Bevölkerung verankert. Millionen beziehen Sozialleistungen, die aus dem Netz der Brüder gespeist werden. Die Freiheitsbewegung gegen die Diktatur Mubaraks war auch deshalb erfolgreich, weil die städtische Jugend und die Prediger aus den Moscheen gemeinsam auf die Straßen gingen. Die ägyptische Armee stellt sich mit dem Putschkurs ihres Oberbefehlshaber Al Sissi gegen den Aufbruch eines großen Teils des Volkes. Seit der nationalistischen Revolution Gamal Abdel Nassers Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Armee die Verkörperung der gesamten Nation. Jetzt lässt die Armeeführung gegen das eigene Volk schießen.
Die Gegenrevolution wird von großen Teilen des Volkes unterstützt. Sogar in Syrien fürchten nach 100 000 Toten religiöse Minderheiten, Christen und die Alawiten, zu denen der Präsidentenklan gehört, die Al Kaida-nahen Extremisten in der Opposition mehr als den Diktator. In Ägypten sind Millionen dem Aufruf gefolgt sich hinter die Armee zu stellen.
Die Revolutionäre blieben nach den raschen Erfolgen der ersten Monate führerlos. Jede neue Wendung hat die Spaltung vertieft. In Syrien ist ein Krieg im Krieg ausgebrochen. Radikale Islamisten kämpfe mit gemäßigten Gruppen um Positionen. Tamarod in Ägypten, ursprünglich eine Bewegung der städtischen Jugend, hat sich voll auf die Seite des Militärs geschlagen.
Der Konflikt zwischen religiösen Parteien und säkularen Gruppen spaltet auch die postrevolutionären Gesellschaften in Tunesien und Libyen. In Libyen wurde der prominenteste öffentliche Kritiker der Islamisten ermordet. In Tunesien fiel der Oppositionsführer einem Attentat zum Opfer. Gewaltsame Zusammenstöße sind die Folge. Aber es gibt keine Armee, die scheinbar über den Streitparteien steht und sich zum Schiedsrichter aufschwingen könnte. Vielleicht bekommen die Länder mehr Zeit, ein pluralistisches System mit funktionierender Verfassung zu schaffen.
Die Fieberschübe sind keine Besonderheit der arabischen Welt. Im Jahr drei der großen Französischen Revolution bereiteten die Jakobiner ihre Terrorherrschaft vor. Zwei Jahrzehnte später regierten in Paris wieder die Bourbonen. Als 1849 nach der Niederschlagung der Märzrevolution der Kaiser wieder Wiener Boden betrat, erscholl das Te Deum aus allen Kirchen. Die demokratischen Pläne der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche waren vergessen. Aber das Ancien Regime der Aristokratie war überwunden. In den Revolutionen des 21.Jahrhunderts der arabischen Welt wird das nicht anders sein.
Außeneinflüsse sind in Umbruchsituationen wichtig. Das grüne Licht Barack Obamas half beim Sturz Hosni Mubaraks. Waffen und Berater aus Russland und dem Iran haben das Assadregime am Leben erhalten. Nach einigem Zögern fordert die Europäische Union die Freilassung Mohammed Mursis. Aber auf eine konzertierte Protestwelle gegen die Repression wartet man vergeblich.
Bei den abrupten Wendungen werden die Europäer nicht mitreden. Absentieren dürfen sie sich trotzdem nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA jenen Staaten, die den Weg der westlichen Demokratie einschlagen wollten, über den Marshallplan Hilfe zugesagt. Ein ähnliches Angebot im großen Stil sollte heute an die arabische Welt gehen: Wirtschaftshilfe und Kooperation, im Gegenzug für Pluralismus, Rechtsstaat und ziviles Regieren. Einzelne Staaten sind mit einem solchen Projekt überfordert. Die Europäer müssten Finanzen und Know How zu einem EU-Marshallplan für die Zukunft der arabischen Welt zusammenlegen. Schließlich wären von einem völligen gesellschaftlichen Zusammenbruch in der südlichen Nachbarschaft ebenfalls alle EU-Staaten betroffen.