Der kanadische Einwanderungsminister hat ein Problem: es melden sich viel mehr Bürger, die syrische Flüchtlinge unterstützen wollen, als das Land aufnimmt, erzählt er der New York Times. Die neue Regierung in Ottawa hat die Flüchtlingszahlen auf 35 000 hinaufgesetzt. Private Sponsoren übernehmen während eines Jahres die Betreuung der Familien. Während andere Staaten über Abschreckungsmaßnahmen diskutieren, erlebt Kanada einen Moment der Humanität, wie Österreich nach den ungarischen Grenzschließungen im letzten Sommer.
Premierminister Justin Trudeau ist der erfolgreichste linksliberale Regierungschef der westlichen Welt. In den USA toben die Republikaner, dass Terroristen über die durchlässige Grenze einsickern könnten. Amerikanische Konservative hassen den Wohlfahrtsstaat der Nachbarn im Norden. Es gibt ein staatliches Gesundheitssystem, ganz ähnlich wie in Europa.
Kein anderes Land auf der anderen Seite des Atlantiks tickt so europäisch wie Kanada. Trotzdem ist CETA, das europäische Handelsabkommen mit dem nordamerikanischen Staat, zum Feindbild geworden.
Der Deal ist seit 2013 unterschriftsreif. Auf 519 Seiten versprechen einander Kanadier und Europäer, dass sie Zölle abschaffen wollen, die Zulassung von Waren gegenseitig akzeptieren und sogar bei öffentlichen Ausschreibungen Firmen von der anderen Seite zulassen. Verhandelt wurde fast zehn Jahre. Auf kanadischer Seite gab es Bedenken, weil Medikamente in Europa weniger streng geprüft werden. Die Europäer zögerten, weil in der kanadischen Rinderzucht mehr Hormone erlaubt sind, als in der EU. Aber im Endeffekt überwog die Überzeugung, dass mehr Freihandel zur wirtschaftlichen Belebung beiträgt.
In der aufgeheizten Stimmung nach Brexit hätte die glatte Ratifizierung von CETA der Beweis sein können, dass Europa nach wie vor fähig ist die Regeln der globalisierten Welt zu gestalten.
Aber plötzlich kam es zwischen Kommissionspräsident Juncker und Regierungsvertretern aus Berlin und Wien zu einem Streit über die Ratifizierung. Es geht um die Frage, ob das Europäische Parlament und der Rat der Mitgliedsstaaten entscheiden, oder ob zusätzlich Abstimmungen in den nationalen Parlamenten nötig sind. Die Topjuristen der Kommission sagen Nein, weil es sich nicht um ein gemischtes Abkommen handelt, das in die Rechte der Nationalstaaten eingreift. Sozialdemokraten und Grüne, die sonst gerne mehr Europa fordern, argumentierten dagegen, dass demokratische Entscheidungen beim Welthandel nur die Nationalstaaten treffen können, nicht die Union. Erst die Erkenntnis, dass jede Regierung auch das eigene Parlament konsultieren kann, selbst wenn das nicht zwingend erforderlich ist, hat die Stimmung entspannt.
Tatsächlich geht es bei CETA um das Prinzip. Wenn Europa sogar den Kanadiern einen Deal verweigert, wird es große Handelsverträge kaum geben. Das CETA-Abkommen mit Kanada gilt als Wegbereiter für TTIP, das Freihandelsabkommen mit den USA, das von Nationalisten und Globalisierungsgegnern bekämpft wird. EU-Außenhandelskommissarin Cecilia Malmström hofft, dass bei einer Einigung mit den Kanadiern der Druck auf die USA steigt, in ähnlich gelagerten Streitfällen akzeptablen Lösungen zuzustimmen
Übersehen wird von den CETA- Kritikern, dass die EU mit den Kanadiern einen Kompromiss gefunden hat, von dem man mit den USA noch weit entfernt ist: erstmals ist die Bildung eines internationalen Gremiums zur Streitbeilegung bei Disputen zwischen Staaten und Investoren vorgesehen. Ein deutlicher Fortschritt gegenüber den als Privatjustiz kritisierten Ad-Hoc-Gerichten zum Investorenschutz, die in Handelsverträgen üblich sind. Österreich hat 60 bilaterale Investitionsabkommen geschlossen.
Handelspolitik ist europäische Außenpolitik im weiteren Sinn. Wird sie zum innenpolitischen Spielball in den Mitgliedsstaaten, wäre es um die letzten Reste der Handlungsfähigkeit der EU geschehen.
Der Disput um den Freihandel mit Kanada zeigt, wie eng EU-Skepsis und Misstrauen gegen die globalisierte Welt verbunden sind. Regeln sind in der Weltwirtschaft tatsächlich dringend erforderlich. Dass die Europäer die Globalisierung zähmen können, wenn sie Brüssel schwächen und Kompetenzen in die Mitgliedsstaaten verlagern, glauben allerdings nicht einmal mehr die Betreiber des Brexit in Großbritannien. Eher wird dann eintreten, was der britische Ex-Premier Gordon Brown seinem eigenen Land prophezeit: Weniger Freunde, keinen Einfluss, wenig neuer Handel, wenig neue Investitionen.