Auf dem Weg zur Failed Democracy, 18.1.2017

Die Zahl der Failed States, der gescheiterten Staaten, nimmt zu. Dabei ist weniger der Staat in Gefahr als die Demokratie

Die Propagandachefs in Peking hatten es schon lange nicht so leicht. Auf den Straßen prangen, souverän ignoriert von den Bürgern, die Grundprinzipien des Sozialismus chinesischer Prägung: Entwicklung und Reform, Gerechtigkeit und Wohlstand, Harmonie und Friede. Die Apps auf den Handys berichten vom Chaos in der weiten Welt. Unter der Führung der Kommunistischen Partei mit Präsident Xi Jinping an der Spitze befindet sich das eigene Land dagegen auf dem Weg nach oben, ungeachtet aller Hürden, wie Smog oder Korruption. Laut Plan soll der gemäßigte Wohlstand spätestens im 100. Gründungsjahr der KP Chinas 2023 erreicht sein. Von Sozialismus oder Kommunismus ist nicht die Rede. Tatsächlich sind noch nie so viele Menschen so rasch aus tiefster Armut befreit worden wie durch die Marktwirtschaft unter kommunistischer Kontrolle in China.

Auf den zaghaften Ruf nach politischen Freiheiten antwortet das Staatssicherheitsministerium in Peking mit einem Video gegen die Demokratiebewegung in Hongkong, das den Kern der ideologischen Auseinandersetzung benennt. Der Vorwurf lautet: Die Studentenführer in Hongkong arbeiten auf einen arabischen Frühling für das Reich der Mitte hin. Wer Pluralismus und demokratische Reformen für die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde fordert, wie Joshua Wong und Benny Tai von der Occupy-Central-Bewegung, will China zu einem großen Syrien machen. Die Pekinger Tageszeitung Global Times, ein nationalistisches Kampfblatt, verweist zusätzlich gerne auf die Wahlkampfaussagen Donald Trumps über die Korruption des amerikanischen politischen Systems. China behält seine Diktatur und wird kein „Failed State“, wie jetzt schon Arabien und demnächst vielleicht auch Amerika und Europa, verspricht die Partei den Bürgern.

Für die Protagonisten autoritärer Regierungsmodelle häufen sich die Anzeichen, dass die liberale Demokratie des Westens am Ende ist. Die Freiheitsrevolution der arabischen Völker ist gescheitert, so wie einst 1848 in Europa. In den entwickelten Industriestaaten erleben nationalistische Demagogen einen spektakulären Aufschwung. Donald Trump, den eine faschistoide Bewegung stark gemacht hat, steht vor dem Einzug ins Weiße Haus. Die Selbstzweifel des Westens wachsen. Die Angst vor einem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, der so total ist, dass die Gesellschaft zerfällt, wird als das große Schreckgespenst in der Auseinandersetzung um die Zukunft der Staatswesen eingesetzt.

Failed States sind zumeist das Ergebnis gescheiterter Revolutionen in den Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, in denen Kolonialismus und Unterentwicklung die Herausbildung funktionierender Staaten blockiert haben. Somalia am Horn von Afrika steht in allen Indizes für Failed States ganz oben.

Siad Barre, der letzte Herrscher Somalias vor dem Zerfall, war ein Verbündeter der Sowjetunion. Es gab Grenzstreitigkeiten mit den Nachbarn, verfeindete Volksgruppen und eine korrupte Staatsbürokratie. Ayaan Hirsi Ali, die als Flüchtling in die Niederlande kam, Abgeordnete wurde und zur Islamhasserin mutierte, hat das große Aufatmen beim Sturz des Diktators 1991 beschrieben. Was folgte, waren 25 Jahre ohne Staat. Amerikanische Special Forces verschlimmerten die Lage, woran der Film „Black Hawk Down“ erinnert. Über Monate hindurch befehligte der amtierende Präsident nur das Personal des Hotels, in dem er regierte. Die Al-Shabab-Milizen, die al- Qaida Treue geschworen haben, terrorisieren große Teile des Landes. Der Wiederaufbau durch die UNO, die Organisation für Afrikanische Einheit und die EU kommt kaum voran.

Afghanistan, Libyen, Syrien oder der Irak haben ihre eigene Geschichte. Der Mechanismus von der totalitären Diktatur zu einem nicht enden wollenden Bürgerkrieg verläuft ähnlich wie in Somalia.

„Es herrscht Chaos unter dem Himmel, die Lage ist ausgezeichnet.“ Aus dem viel zitierten Spruch Mao Tse-tungs spricht der Zynismus des professionellen Revolutionärs. Der menschliche Preis beim Zusammenbruch eines Staatswesens ist verheerend. Leo Trotzki hat darauf hingewiesen, dass sich in der Menschheitsgeschichte der Fortschritt eben über Revolutionen durchsetzt, egal, ob einem das gefällt oder nicht. Allerdings: Die Geschichte kennt auch genügend Situationen, in denen der Niedergang eines politisches Systems zum Rückschritt führt.

Wie zerbrechlich sind die liberalen Demokratien? Diese Frage wird leidenschaftlich diskutiert. Die beiden Politikwissenschaftler Yascha Mounk und Roberto Stefan Foa, Ersterer aus Harvard, Letzterer aus Melbourne, haben in der New York Times ein Modell für Warnzeichen bei der Destabilisierung liberaler Demokratien vorgestellt. Die Abfolge klingt auf den ersten Blick banal: Zuerst wächst die Entfremdung der Bürger, dann werden diktatorische Regierungsformen populär und schließlich steigen antidemokratische Parteien in Machtpositionen auf. Die Daten der Politikwissenschaftler sind beunruhigend. In den USA ist die Zahl jener, die ein Militärregime im eigenen Land positiv sehen würden, zwischen 1995 und 2014 sprunghaft gestiegen. Das gleiche Phänomen zeigt sich in Europa. Gleichzeitig geben immer weniger Personen an, dass es ihnen wichtig ist, in einer Demokratie zu leben. Die Politologen sprechen von einer schleichenden „Dekonsolidierung der Demokratie“. Tatsächlich. Wie lange kann es gutgehen, wenn Parteien, die sich als Feinde des liberal-demokratische Systems verstehen, wie die FPÖ in Österreich, Geert Wilders in den Niederlanden und die Nationale Front in Frankreich, das politische Leben eines Landes vor sich hertreiben?“Dekonsolidierung“ der liberalen Demokratie ist ein treffender Begriff für die Situation, in der sich die westliche Welt befindet.

Eine funktionierende Zivilgesellschaft und sein Sozialsystem machen Europa oder Amerika um vieles resistenter gegen populistische Umsturzpläne als Lateinamerika oder Asien. Offenen Widerstand gegen Imperialismus und Kapitalismus hat es im amerikanischen System immer gegeben. Die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre in den USA wurde zum Vorbild demokratischer Proteste in der ganzen Welt. In Westeuropa erkämpften Gewerkschaften und Linksparteien in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus den Sozialstaat, den in den USA Roosevelts New Deal auf den Weg brachte. Erst die Erosion demokratischer Freiheiten und sozialer Rechte unterminiert die Demokratie.

Den Politikwissenschaftlern Mounk und Foa gilt der Ölstaat Venezuela als Modell einer „Dekonsolidierung der Demokratie“, weil die Machtergreifung des linkspopulistischen Militärs Hugo Chavez von der Bevölkerung mitgetragen wurde. Vorausgegangen ist der bolivarischen Revolution ein formaldemokratisches System, das breite Teile des Volkes links liegen ließ. Erst Chavez begann Gelder aus den Öleinnahmen in Sozialprojekte der Slums umzuleiten. Mit dem Verfall des Ölpreises und dem Krebstod des Revolutionsführers begann der Abstieg. Das staatliche Versorgungsnetz ist unter Korruption und Misswirtschaft zusammengebrochen. Die Krise kam um vieles schneller als im sogenannten real existierenden Sozialismus Osteuropa. Die linke Regierungspartei hat die gesellschaftliche Kontrolle verloren, behält aber vorläufig noch die Kommandostellen der politischen Macht gegenüber einer auftrumpfenden bürgerlichen Opposition. Venezuela, das unter Chavez mit den Öleinnahmen linke Kräfte in ganz Lateinamerika samt dem castristischen Kuba finanzierte, steht vor dem Kollaps.

Die Folgen des Niedergangs der Linken auf dem Kontinent erlebt auch Brasilien. Das Rollback der Sozialreformen, die unter Lula die krassen Klassenunterschiede mildern sollten, hat mit der Amtsenthebung der linken Präsidentin Dilma Rousseff voll eingesetzt. Anders als früher zeigen die Militärs nirgends in Lateinamerika Appetit auf die Macht. Ob das unter Donald Trump so bleiben wird, kann niemand voraussehen. Dass die lateinamerikanischen Oligarchien nicht zimperlich sind, haben sie oft bewiesen.

Die Zerstörung eines relativ gut funktionierenden, allerdings nicht demokratischen Systems erlebte Europa in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts im multinationalen Jugoslawien. Jugoslawien hatte sich unter Tito zum liberalsten Staat des real existierenden Sozialismus entwickelt. An die Stelle der Kommandowirtschaft sowjetischen Stil war ein Selbstverwaltungssystem getreten, das Unternehmen und Belegschaften großen Spielraum gewährte. Man wusste zwar: Unter der Oberfläche brodelten nationalistische Animositäten. Die gerne beschworene „Einheit und Brüderlichkeit“ der Nationalitäten war Propaganda. Aber blutige Kämpfe zwischen den Volksgruppen schienen der Vergangenheit anzugehören. Dass das alte Jugoslawien in einem nationalistischen Rausch, der auch aus Österreich und Deutschland befeuert wurde, zerfiel, war ein düsteres Zeichen dafür, wie rasch auch in Europa staatliche Strukturen zusammenbrechen können.

Sind repräsentative Demokratien, in denen ein Mehrparteiensystem es erlaubt, dass innere Gegensätze sich auch politisch widerspiegeln, gegen Niedergang besser gefeilt als ein Einparteienstaat?

Vor 25 Jahren machte der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama mit seiner These vom „Ende der Geschichte“ Schlagzeilen. Gemeint war, dass es mit dem Zusammenbruch des Kommunismus keine ideologische Konkurrenz zum Modell der liberalen Demokratie samt Marktwirtschaft mehr gibt. Der Befund Fukuyamas klang nach dem Sieg des Westens im Kalten Krieg triumphalistisch. Alternativen mit globalem Anspruch gibt es trotz aller weltweiten Turbulenzen zum demokratischen Kapitalismus aber nach wie vor keine.

Der Islamismus, der in verschiedenen Strömungen gegen westliche Einflüsse kämpft, wird immer auf die islamische Welt begrenzt sein. In Europa ist der Terror der Dschihadisten ein Krisenphänomen, vergleichbar der Gewalt neofaschistischer Verschwörer und linksradikaler Kommandos in den 1970er-Jahren. Die Reaktionen des Staates waren für die weitere Entwicklung von größerer Bedeutung als die Herausforderung selbst.

Auf ihr Herrschaftssystem im eigenen Land beschränkt sich die mächtige Kommunistische Partei Chinas mit der Ideologie des Sozialismus mit chinesischer Prägung. Nach außen hat China keine Strahlkraft. Die Chinesen glauben an gar nichts, wundert sich der israelische Historiker Yuval Noah Harari über das ideologische Vakuum seit dem Ende des Maoismus. Nur die eigene Kasse muss stimmen.

Russlands Wladimir Putin, ebenfalls ein Feind der liberalen Demokratien des Westens, hat ein autoritäres System auf den ideologischen Grundlagen der russisch-orthodoxe Kirche geschaffen. Russischer Nationalismus und die Bewunderung für den Führer gehen Hand in Hand. Individuelle Freiheit und Toleranz sind out, das Kollektiv der völkisch definierten Nation bestimmt die Regeln. Rechte Nationalisten machen bei ihrem Feldzug gegen die multikulturelle Gesellschaft des Westens bei Putin gerne Anleihen. Auch Unterstützung und Geld aus Moskau nehmen sie gerne. Aber ernsthaft ideologisch verbunden sind Wilders, Le Pen oder Orbán mit dem Kreml nicht. Eine Herausforderung, die vergleichbar mit dem Marxismus-Leninismus von früher wäre, ist der Putinismus keine.

Der britische Politikwissenschaftler David Runciman dreht in der kollektiven Depression nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen den Spieß um und argumentiert, dass die Wahl Trumps die Stärke des amerikanischen Systems beweist. Seine Fans haben ihn gewählt, vermutet Runciman, nicht weil sie seinen Versprechen glauben, sondern weil sie darauf vertrauten, dass alles nicht so schlimm wird. Entgegen der eigenen Proteststimme. Der Rechtspopulismus werde in den USA von den Bürgern als Chance gesehen, sich abzureagieren, ohne Risiken einzugehen. Zeitgleich wird bekannt, dass Trump-Wähler, die dank Obama krankenversichert sind, schockiert waren, als sie entdeckten, dass ihre Versicherung gefährdet ist, wenn Trump seine Versprechen wahr macht.

Die westlichen Demokratien erweisen sich auch nach Jahren der Dekonsolidierung als erstaunlich widerstandsfähig. Dass in Südeuropa nach der Unverantwortlichkeit der eigenen Eliten und den Torturen der Sparpolitik nicht schon längst Revolutionen ausgebrochen sind, grenzt an ein Wunder. Im Gegenteil: Griechenland und Italien gehören zu den proeuropäischsten Staaten der EU.

In China zitiert Präsident Xi Jinping gerne den Entdeckungsfahrer Zheng He als Beispiel, wozu das Land fähig ist, wenn es sich öffnet. Der Admiral aus dem 15. Jahrhundert ist ein Held. Während in Europa Kolumbus von Hof zu Hof pilgerte, um Gelder für seine Expedition aufzutreiben, erkundete Zheng He mit seinen riesigen Flotten Indien, Arabien und Ostafrika. Kolumbus stach mit 90 Mann in See. Jedes chinesische Schiff hatte eine Besatzung von 3000. Zheng He reiste mit 100 Schiffen.

Der amerikanische Forscher Jared Diamond rollt die Geschichte des Admirals vom Ende seiner Entdeckungsfahrten her auf. Ein Bannspruch des Kaiserhofes beendete nämlich schlagartig die Eroberung der Welt. Zheng He war mit einer Eunuchenfraktion am Hof verbunden, die einen Machtkampf verlor. Hunderte Schiffe wurden zerstört. China betrat den Weg zur Stagnation. Das Zentrum im alten China war so mächtig, dass Widerspruch gegen eine Fehlentscheidung der Staatsführung unmöglich war. Dagegen konnte Kolumbus, mit dem der Siegeszug des Westens in der Welt begann, zwischen Portugal und Spanien, England und Frankreich wählen. Bei der Fehlentscheidung eines europäischen Staatenlenkers gab es immer irgendwo jemand, der genügend Spielraum hatte, das Gegenteil zu versuchen. Die Vielfalt von Machtzentren kann in einem pluralistischen Sichern dafür sorgen, dass bei einem gesellschaftlichen Irrweg korrigierende Gegengewichte vorhanden sind.

Einen rechten Demagogen an der Spitze Amerikas, der mächtigsten Supermacht des Planeten, hat es noch nie gegeben. Ist es denkbar, dass die westlichen Demokratien trotz aller Warnschilder den Weg Orbáns, Putins oder gar Mussolinis und Hitlers zur Diktatur gehen, fragt Martin Wolf in der Financial Times. Die Antwort des Starkolumnisten ist ein dramatisches Yes. Die Welt wird nicht so bleiben, wie wir sie kennen, prophezeit Wolf.

Runcimans These, Trumps Sieg zeige die Stärke der Demokratie, ist originell, unterschätzt jedoch die Gefahren der weltweiten Offensive nationalistischer Demagogen. Die demokratischen Institutionen wirken heute ausgelaugt und müde. Die entscheidende Barriere auf dem Weg zur Failed Democracy ist die Stärke der Zivilgesellschaft. Pluralistische Systeme, die Widerspruch gegen Fehlentwicklungen ermöglichen, sind historisch besser zur Selbstkorrektur geeignet als Autokratien. In den USA ist sogar das Verbrennen der amerikanischen Fahne als verfassungsmäßiges Recht garantiert. Die Arbeiterbewegung hat im kapitalistischen Westen Sozialgesetze gegen die Massenarmut durchgesetzt, als das allgemeine Wahlrecht dies möglich machte. Unsere Freiheiten müssen neu erkämpft werden. Garantien für einen guten Ausgang gibt es in der Geschichte keine.