Der Konflikt um die Ukraine nähert sich einem Punkt, an dem Krieg und Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher werden.
In großem Tempo hat Vladimir Putin die militärische Eroberung der Krim durchgezogen. Jetzt muss Russland die Präsidentschaftswahlen vom 25.Mai blockieren, um zu verhindern, dass in der Ukraine eine neue Führung mit Legitimität im ganzen Land entsteht. Bleiben die Barrikaden der russischen Separatisten bestehen, dann wird ein geordneter Ablauf des Urnenganges unmöglich. Umgekehrt ist die Kiewer Führung gezwungen, bis zum Wahltag die staatliche Kontrolle in der Ostukraine zurückzugewinnen. Der frontale Zusammenstoß ist vorprogrammiert.
Russland beansprucht das Recht, überall dort militärisch zu intervenieren, wo Russen angeblich gefährdet sind. Fließt Blut in Donezk und Slawjansk, dann könnten auch die 40 000 regulären Soldaten der russischen Armee auf der anderen Seite der Grenze zum Einsatz kommen.
In Washington DC glaubt man, dass Putins Ukrainepolitik seit 2013 einem Masterplan folgt, um durch die Errichtung der Eurasischen Union einen großrussischen Ersatz für die verlorene Sowjetunion zu schaffen. Die höchste Regierungsspitze in Berlin war dagegen lange überzeugt, dass Putin seit der Flucht seines Verbündeten Janukowitsch aus Kiew von den Ereignissen getrieben ist. Aber inzwischen müssen auch Merkel und Steinmeier zugeben: die russische Führung hat jede Chance zur Deeskalation verstreichen lassen. Die Dynamik des ukrainisch-russischen Konflikts geht in Richtung Krieg.
Donezk, Simferopol oder Odessa 2014 erinnern an Sarajewo wenige Wochen vor dem Bosnienkrieg von 1992. Der aggressive serbische Nationalismus unter Slobodan Milosevic stürzte den westlichen Balkan ins Unglück. Die Tragödie blieb auf das ehemalige Jugoslawien begrenzt. Russland ist zweite Atommacht der Erde, mit einer Landmasse, die von den Grenzen Chinas bis vor die Tore der EU reicht. Putin spricht von der Ukraine als „Neurussland“, und stellt damit die Grenzen im gesamten Osten Europas grundsätzlich in Frage.
Die proeuropäische Führung in Kiew ist das schwächste Glied unter den Nachbarstaaten Russlands. Von ihren Vorgängern hat sie einen ineffizienten und korrupten Staatsapparat übernommen, Polizei und Armee sind von russischen Zuträgern durchsetzt. Premierminister Arsenij Jazenjuk fuhr nach Brüssel und Washington DC. Aber einen Besuch in der Ostukraine hat der von der Extremsituation überforderte Politiker nicht gewagt. Trotz seriöser Umfragen, wonach die Mehrheit der russischsprachigen Ukrainer lieber in einer mit Europa verbundenen Ukraine leben will, als in Russland, ist es den ukrainisch-nationalistischen Parteien in Kiew nicht gelungen, eine Brücke zur russischsprachigen Minderheit zu schlagen.
EU-Militärexperten geben den ukrainischen Streitkräften im Fall eines offenen Konflikts geringe Chancen zum Widerstand. Mit ihren 40 000 Mann könnten die Russen aus dem Stand eine Invasion durchführen und die Ostukraine abtrennen, erklärt ein hoher Militär in Brüssel. Wahrscheinlich würden sie im Süden bis zu der von Moldau abgespalteten prorussischen Enklave Transnistrien durchstechen und der Ukraine damit den Zugang zum Schwarzen Meer abschneiden.
Es wird plötzlich viel militärisch kalkuliert in Europa. Schweden will aufrüsten. Die Regierung in Stockholm hat für die nächsten Jahre den Ankauf neuer Abfangjäger und U-Boote beschlossen. Das ebenfalls bündnisfreie Finnland steht in Verhandlungen mit der NATO über eine engere Kooperation. In den beiden traditionell blockfreien Staaten hat eine Diskussion über einen NATO-Beitritt eingesetzt.
Weil die baltischen Staaten auf Abfangjäger verzichtet haben, sichern NATO-Flugzeuge den Luftraum. Ein halbes Dutzend zusätzlicher Kampfflugzeuge aus Frankreich, den USA und Deutschland patroullieren jetzt über dem Baltikum. Das Pentagon verlegt einige hundert Soldaten nach Polen und in das Baltikum. Eine symbolische Geste in Richtung Moskau, denn um als globale Supermacht zu agieren, darf Washington keinen Zweifel an der weltpolitischen Achse zu Europa aufkommen lassen.
Wenn es zum Krieg kommt in der Ostukraine kann die NATO wenig tun. Niemand will sterben für Donetsk. Putin muss in der gesamten Zwischenzone zwischen Russland und NATO genauso wenig militärische Reaktionen der USA und Europas befürchten, wie in der Krim.
So bleibt dem Westen nichts anderes übrig als sich auf eine Politik des Containments einzustellen, um Russland durch wirtschaftliche Sanktionen und diplomatische Isolation vor weiteren expensiven Schritten abzuschrecken. Ob die Ukraine durch eine solche Drohung besser vor Unheil bewahrt werden kann, als Bosnien vor 22 Jahren, ist fraglich. Aber erzwungene Grenzveränderungen im Sinne eines völkischen Nationalismus einfach zu akzeptieren, wäre ein böses Signal. Nicht zufällig sind Putins ideologische Verbündete in Europa die Führer der Rechtsaußenparteien von Le Pen bis Strache.