2020 erwies sich die EU als erstaunlich resilient, 16.12.2020

Der gefährliche Poker im Verhandlungsfinale um die Beziehungen der Europäischen Union zu Großbritannien täuscht. Der Brexit ist eine ausschließlich britische Fehlentwicklung. Die Interessen der Kontinentaleuropäer in ihrem Verhältnis zur Insel sind unterschiedlich. Frankreich mit seinen streitbaren Fischern hat andere Prioritäten als Deutschlands exportorientiere Autoproduzenten. Trotzdem ist die Einheit der EU-Staaten nie ernsthaft in Frage gestanden. Verhandelt haben für alle 27 Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Brexit-Beauftragter Michel Barnier. Boris Johnson wollte die kompromissbereitere Angela Merkel gegen den härteren Emmanuel Macron ausspielen und ist gescheitert.
Der gemeinsame Binnenmarkt ist die wichtigste Stärke des Kontinents, die außer den Briten niemand aufs Spiel setzen will. Der wirtschaftliche Zusammenhalt hat der Union in den letzten Monaten ein spektakuläres Comeback ermöglicht.
Das Jahr 2020 hat extrem schlecht angefangen, sinniert EU-Experte Stefan Lehne. Schengen war weg, weil in der Pandemie die Grenzen hochgezogen wurden. Die Mitgliedsstaaten boykottierten sich gegenseitig bei der Verteilung von Schutzausrüstungen. Der Zerfall stand im Raum. Jetzt ist die Situation völlig anders. Die Grenzen bleiben offen, soweit das gesundheitlich möglich ist. Die gemeinsame Beschaffung des Corona-Impfstoffs ist das Gegenstück zu den blockierten medizinischen Schutzkleidern von früher. Die Milliarden des Wiederaufbaufonds haben den schwelenden Nord-Südkonflikt in der EU beruhigt. Die Dynamik hat sich umgedreht, sagt Lehne.
Dazu kommt zum Jahresende das grüne Licht zum EU-Budgetrahmen. Der europäische Haushalt hat durch die Koppelung an den 750 Milliarden schweren Wiederaufbaufonds an Gewicht gewonnen. Insgesamt sollen es 1800 Milliarden Euro über sieben Jahre werden. Der Einfluss Brüssels auf die Wirtschaft der Mitgliedsstaaten wächst. Angela Merkel hat der Aufnahme von Schulden durch die Kommission zugestimmt. Damit konnte die ewige Auseinandersetzung mit den Südstaaten um Euro-Bonds beendet werden. Der unselige Widerstand Österreichs unter Sebastian Kurz gegen diesen historischen Schritt der Union darf nicht vergessen werden. Aber glücklicherweise waren die türkisen Querschläger aus Wien nicht von Dauer.
Gegen die Koppelung von EU-Geldern an einen funktionierenden Rechtsstaat hatten sich am Ende mit einer Vetodrohung nur mehr Ungarn und Polen gewehrt. Die verbündeten Visegradstaaten Tschechien und die Slowakei blieben still. Hunderte oppositionelle Bürgermeister aus Polen und Ungarn, darunter die Stadtchefs der Hauptstädte Warschau und Budapest, hatten Ursula von der Leyen gegen Viktor Orban und Jaroslav Kaczynski den Rücken gestärkt. Der Kompromiss, der das Veto vom Tisch gewischt hat, hält die Rechtsstaatsmechanismus aufrecht, macht seine Anwendung aber langwieriger und komplizierter. Ein taktischer Vorteil vor allem für die Orban, der vor den nächsten Wahlen 2022 kaum mit Schwierigkeiten rechnen muss. Strategisch hat die Union gewonnen, weil sie jetzt über zusätzliche Druckmittel verfügt Angriffe auf die Pressefreiheit und die unabhängige Justiz in Mitgliedsstaaten zu ahnden.
Die Einflussmöglichkeiten aus Europa auf die innere Entwicklung der Mitgliedsstaaten sind begrenzt. Direkter Druck von außen kann leicht nationalistische Gegenreaktionen auslösen, was von Grünen und Sozialdemokraten im Europaparlament oft unterschätzt wird. Das vorsichtige Vorgehen der deutschen CDU unter Angela Merkel setzt darauf, dass der autoritäre Umbau in Polen und Ungarn mittelfristig durch innenpolitische Veränderungen gestoppt wird. Solange es freie Wahlen gibt und die Zivilgesellschaft nicht tot ist, ist es sinnvoll auf die Widerstandskräfte der Demokratie zu setzen. Die USA haben vorgemacht, wie eine rechtsrechte Führung trotz einer beachtlichen Basis von Fans abgewählt werden kann. Der Höhenflug des rechten Nationalismus ist gestoppt.
In der Auseinandersetzung um den Wirtschaftsaufbaufonds hat Frankreich die alte Idee von Kerneuropa aufgegriffen. Die 25 vom Veto Ungarns und Polens betroffenen Mitgliedsstaaten könnten die Milliardenaufwendungen auf dem Weg der verstärkten Zusammenarbeit ohne die beiden Rebellen beschließen. Die Drohung ist verpufft, weil das Veto bald vom Tisch war. Wenn in Osteuropa diktatorische Regime entstehen, wie das in der Zwischenkriegszeit der Fall war, wird die Vision eines demokratischen Kerneuropa wieder Aktualität gewinnen. Dass Großbritannien, das Integrationsschritte immer gebremst hat, nicht mehr dabei ist, kann sich dann sogar als Vorteil herausstellen.
Die größte Gefahr für Europa ist der sozialer Zerfall in Gesellschaften, in denen es eigentlich starke soziale Netze gibt. Frankreich ist Trendsetter im Guten und im Schlechten. Präsident Emmanuel Macron, ein weltoffener Liberaler, greift auf Polizeistaatsmethoden zurück, um der Unsicherheit Herr zu werden. Der Schwarze Block von brutalen Schlägern hinterlässt nach jede Protestdemonstration in Paris ein Schlachtfeld. Es ist eine angespannte Situation, die überall aufpoppen und dann leicht in autoritäre Richtung kippen kann.
Die Europäische Union hat es nie geschafft ein kontinentales Sozialversicherungssystem aufzubauen, mit dem in den USA in den 1930er-Jahren Franklin D.Roosevelt auf eine vergleichbare Systemkrise reagiert hat. Der französische Vorschlag für eine Europäischen Arbeitslosenversicherung ist zwar von Sozialdemokraten und Grünen in Deutschland aufgegriffen worden, blieb aber Papier. Solange die Linke in den Ländern mit starker Volkswirtschaft in ihrer nationalstaatlichen Komfortzonen bleibt, wird die offene soziale Flanke der Europäischen Union größer werden.

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