In Brüssel kommen in diesen Minuten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zum Jahresabschlussgipfel zusammen. Verhandelt wird über den Kampf gegen den Terrorismus, den Klimaschutz und die schwierigen Beziehungen zur Türkei. Aber überschattet wird der Gipfel vom dramatischen Finale bei den Brexitverhandlungen mit Großbritannien. Nach einem Abendessen zwischen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem britischen Premier Boris Johnson heißt es, bis Sonntag wird noch verhandelt. Kommt es zu keinem Deal ist der Hard Brexit ab 1.1.2021 unvermeidbar. Wie überraschend ist eigentlich dieses neuerliche Showdown, nachdem wir in den letzten Jahren immer wieder Deadlines und Einigungen, erlebt haben, bei denen doch alles hätte geklärt werden sollen?
Es ist schon erstaunlich, dass so wichtige Fragen noch offen sind, nachdem so oft und so lange verhandelt wurde in den letzten vier Jahren. Zum Beispiel Gesundheitsstandards für britische Waren, die in die EU exportiert werden. Oder Sozialstandards in britischen Firmen und die Fischerei.
Aber es ist immer so, bei emotional aufgeladenen Themen, wird es am Ende besonders dramatisch. Und der Brexit ist ein unglaublich emotionales Thema in Großbritannien.
Erinnern wir uns an die Schuldenkrise mit Griechenland vor 10 Jahren. Da war auch viel Dramatik, es hat unzählige Nachtsitzungen gegeben, aber letztlich hat man sich geeinigt.
Nach letzten Fristen kommen immer noch allerletzte Fristen. Und das ist gut so, wenn man einen Clash verhindern will. Der Euro ist stabil, die Banken sind gerettet und Griechenland erholt sich.
Diese Erwartung auf eine Einigung am letzten Drücker ist jetzt auch beim Brexit vorhanden. Großbritannien und die EU sind Nachbar, sie bleiben über tausend Fäden und gemeinsame Interessen miteinander verbunden. Eine Scheidung im Bösen wäre verrückt.
Wer sitzt denn am längeren Ast in diesen Verhandlungen? Hat sich bei der Interessensabwägung und damit dem Kräfteverhältnis zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich in der letzten Zeit etwas verändert?
Das Kräfteverhältnis hat sich für Großbritannien sicher nicht verbessert. Und zwar durch den Wahlausgang in den USA. Joe Biden, der nächste Präsident der Vereinigten Staaten, ist ein erklärter Gegner von Brexit, anders als Donald Trump. Für Boris Johnson ist das unangenehm. Sollte es doch zu einem Hard Brexit kommen, also einer Scheidung ohne Scheidungsvertrag, kann die britische Regierung nicht mehr erwarten, dass der große Bruder Amerika sie auffängt.
Man hat die veränderte Situation schon gesehen, wie Großbritannien nachgegeben hat in der Nordirlandfrage. Joe Biden hat immer gesagt, es darf nicht wieder eine echte Grenze geben zwischen Nordirland und der Republik Irland.
Die Republik Irland gehört zur EU, Nordirland zum Vereinigten Königreich. Ausgemacht war, dass es die Zollgrenzen wo anders geben muss, nicht auf der irischen Insel. Das wollte die britische Regierung ändern, die EU hat protestiert, Joe Biden hat protestiert, und jetzt sagt man in London, es war nur so eine Idee, wir halten uns an die Verträge. Da hat Boris Johnson glücklicherweise nachgegeben.
Natürlich, irgendwo werden auch die Europäer nachgeben müssen.
Warum sind Fischerei und Handelsfragen zwischen Großbritannien und der EU so umstritten?
Fischereiunternehmen aus Belgien, den Niederlanden und vor allem Frankreich fischen in britischen Gewässern. Sie leben davon, seit Jahrzehnten, weil das EU-Gewässer waren. Mit dem Brexit wird das wieder rein britisches Gebiet. Wenn die Fischer vom Kontinent dort ausgeschlossen sind, stehen zehntausende Existenzen auf dem Spiel.
Am schwierigsten ist das für Frankreich, denn zehntausende französische Fischer leben vom Fischen in britischen Gewässern. Es kann zu einer Revolte der Fischer kommen, wenn sie nicht mehr in britischen Gewässern fischen dürfen. Eine neue soziale Front kann der französische Präsident jetzt gar nicht gebrauchen. Da wird man vielleicht mit Geldzahlungen beruhigend auf die Fischer einwirken müssen.
Finanzieller Ausgleich, um zu verhindern, dass sich eine Gesellschaft destabilisiert, das hat immer wieder funktioniert in Europa.
Der andere Punkt ist die Sorge der EU-Staaten, dass britische Firmen zu Dumpingpreisen ihre Waren auf dem Kontinent verkaufen, wenn sich die Firmen nicht an Soziale Standards halten müssen. Es geht um Autobestandteile, Flugzeugteile und Lebensmittel. Wobei Dumping schon ein polemischer Begriff ist.
Klar ist es eine Überlegung der Briten günstiger zu produzieren und dann ihre Waren auch besser verkaufen zu können. Es ist immer wieder das Bild eines erfolgreichen großen Singapurs vor den Toren der EU gezeichnet werden.
Für die Briten wäre das ein Traum, für die EU ist es eine Horrorvorstellung.
Wobei weniger ein Problem ist, dass die jetzt gültigen Standards erhalten werden sollen. Die Frage ist, was passiert, wenn die EU strenge Umweltregeln einführt? Muss dann Großbritannien mitziehen oder nicht, und wie ist das mit der erträumten Souveränität durch den Brexit vereinbar?
Das sind die kniffligsten Fragen, die bis Sonntag verhandelt werden sollen.
Großbritannien hat eigenständig einen Corona-Impfstoff genehmigt. Müssen sich die Briten nicht mehr an die Vorgaben der Europäischen Arzneimittelbehörde halten, obwohl der Brexit bis zum 31.12. 2020 ja noch nicht umgesetzt sein sollte?
Rein rechtlich ist eine Sondergenehmigung auch innerhalb der EU möglich, wenn ein Mitgliedsstaat eine Notstandsklausel bemüht. Es könnten auch andere Mitgliedsstaaten so agieren. Politisch ist klar, dass Boris Johnson vorpreschen wollte. Während es den 27 EU-Staaten wichtig ist zu demonstrieren, dass man den Impfstoff sehr sorgfältig prüft und sich auch die nötige Zeit dafür nimmt.
Die Impfung wird es möglich machen, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Aber dazu müssen genügend Menschen bereit sein, sich auch tatsächlich impfen zu lassen.
Bei der zweiten großen Auseinandersetzung im Vorfeld zu diesem Gipfel ist es um die Blockade des siebenjährigen Budgetrahmens und des Corona-Wiederaufbaufonds durch ein Veto aus Ungarn und Polen gegangen. Die beiden Staaten haben sich gegen einen sogenannten Rechtsstaatsmechanismus zur Wehr gesetzt, wonach die Auszahlung von EU-Geldern erschwert wird, wenn in einem Mitgliedsstaat der Rechtsstaat nicht funktioniert. Jetzt hat Deutschland einen Kompromiss ermöglicht. Wer hat sich denn hier durchgesetzt?
In der EU gibt es eine goldene Regel, dass nach jedem Disput alle Streitparteien die Möglichkeit haben sollen sich selbst zum Sieger zu erklären. Es soll nach außen keine Verlierer geben. Das ist ein gutes Prinzip, denn eine Kultur der Kompromisse kann nur entstehen, wenn niemand fürchten muss blossgestellt zu werden.
Natürlich haben jetzt auch die Regierungen in Warschau und Budapest die Möglichkeit sich zum Sieger zu erklären.
Aber die Sache ist klar: dieser Rechtsstaatsmechanismus bleibt bestehen, wenn die Unabhängigkeit der Justiz oder die Pressefreiheit verschwinden, wird das finanzielle Folgen haben. Es wird aber komplizierter ihn anzuwenden, weil auch der Europäische Gerichtshof vorgeschaltet sein wird, Gelder nicht ausgezahlt werden.
Was jetzt nur ausgeschlossen wird durch eine politische Erklärung sind Dinge, die sowieso nie intendiert waren, die aber von Orban in Ungarn und Kaczynski in Polen hochgespielt wurden, nämlich, dass das irgendetwas mit der Einwanderungspolitik zu tun hat oder der Homoehe.
Aber die Regierungen in Polen und Ungarn sind auch intern stark unter Druck. Hunderte oppositionelle Bürgermeister, darunter die Bürgermeister von Budapest und Warschau, haben nach Brüssel geschrieben, bitte gebt nicht nach. Umfragen besagen, dass über 70 Prozent der Bevölkerung in beiden Ländern diese Verbindung von demokratischem Rechtsstaat und Geldzahlungen befürworten. Und natürlich, dass Geld fließt aus Brüssel, daran sind die beiden Regierungen ganz besonders interessiert.
Da hat sich gezeigt, dass sich die Europäische Union, wenn sie hart bleibt, doch auch durchsetzt.