Nordkorea auf dem Weg zur friedlichen Koexistenz?, 2.9.2015

Zieht  Kim Jong Un in Nordkorea tatsächlich die Fäden oder ist der exzentrische  Diktator nur ein Aushängeschild des Militärs? Die Frage wird seit Jahren  diskutiert. Das Auf und Ab von Hochspannung und Entspannung auf der koreanischen Halbinsel löst international  Verwunderung aus. In der bizarren Welt der nordkoreanischen Eliten könnte der abrupte Wechsel jedoch durchaus im Interesse  des Enkels von Staatsgründer Kim Il Sung liegen.

Den Durchbruch nach nächtelangen Verhandlungen gab es, als die nordkoreanische Delegation einer Forderung  Südkoreas entgegen kam, die  als unannehmbar galt: Nordkorea müsse sich für Landminen entschuldigen, die in der demilitarisierten Zone südkoreanische Soldaten verletzt haben. In einer diplomatischen Tradition, in der es das wichtigste ist, das Gesicht zu wahren, schien diese Hürde unüberwindbar.

Bis der Verhandlungsführer aus Pjöngjang den befreienden Schritt tat:  Nordkorea bedauert selbstverständlich die Opfer, und ist gerne bereit, das Mitgefühl auch öffentlich zu machen. Von direkter Entschuldigung ist  keine Rede. Aber Südkoreas Präsidentin Park Gün Hey  konnte den Spin in die von ihr gewünschte Richtung drehen.  Der martialische Aufmarsch  der Streitkräfte beider Staaten wurde abgeblasen. China und die USA hatten als die wichtigsten  Verbündeten der Streitparteien ihren Anteil an der Deeskalation.   Aber nur Kim Jong Un persönlich kann eine Erklärung genehmigt haben, die so nahe an die südkoreanische Forderung herankommt.   Seither läuft in Nordkorea eine  Säuberungswelle gegen hochrangige Militärs, die die Wendung vom Quasi-Kriegszustand zur friedlichen Koexistenz nicht rasch genug mitgemacht haben.

Einen skurrilen Hinweis, dass Kim Jong Un tatsächlich das Sagen hat,  sieht der Politikwissenschaftler Andrei Lankov auf der Kookmin Universität in Seoul in der Einladung des  ehemaligen US-Basketballers Dennis Rodman  nach Pjöngjang vor  zwei Jahren. Kein Nordkoreaner hat je von „Bad Boy“ Dennis Rodman gehört, argumentiert Lankov.  Einzig Kim Jong Un kann sich in seinem Schweizer Nobelinternat via CNN für den   Basketballstar interessiert haben. Nur der junge Diktator hat die Macht, aus dieser Sympathie  die Einladung in Richtung eines amerikanischen Stars zu machen, der  allen Usancen  des Landes widerspricht, so Lankov. Kim Jong Un herrscht mit Hilfe von hundert führenden Familien, die in 45 Wohnbezirken streng abgeschieden von den Normalbürgern leben, analysiert der  Nordkoreaexperte.

Die Vereinten Nationen fürchten, dass dem Land  auf Grund  einer langgedehnten Trockenheit  demnächst eine akute Lebensmittelknappheit drohen wird. Die Warnung ruft die verheerenden Hungerskatastrophen der 1990erjahre in Erinnerung, als Hunderttausende  gestorben sind. Aber wirtschaftlich geht es Nordkorea besser. Die Regierung erlaubt den Bauern  Anbau  für die eigene Kasse.  Seit einiger Zeit gibt es private Märkte. Die  Wirtschaftspolitik erinnert an die Anfänge der marktwirtschaftlichen Reformen in China oder Vietnam. Die einst von Stammvater Kim Il Sung erfundene Juche-Staatsreligion erweist sich als ausreichend flexibel.

Der italienische Journalist Luca Faccio, der Nordkorea regelmäßig bereist, hat beobachtet, wie sich das Straßenbild Pjöngjangs  verändert. Die Menschen tragen bunte Kleider und es gibt Handys. Auf  den  leeren Straßen fahren Taxis, eine völlige Novität. Es wachsen Hochhäuser, wie in anderen asiatischen Städten auch. Geblieben ist die einzigartige Abgeschiedenheit des Landes. Die meisten Nordkoreaner sind überzeugt, dass es im Rest der Welt nur Hunger und Elend gibt, berichtet der Journalist.

Die Atomwaffen sind die Sicherheitsgarantie der Herrscherdynastie der Kims. Kim Jong Un kann im Inneren experimentieren, weil sein Regime dank der  Atombomben von außen uneinnehmbar ist. Damit die Abschreckung funktioniert, muss der Diktator ein Restrisiko offen lassen, dass er die Waffen auch tatsächlich einsetzen könnte.  Dieses gezielte Spiel mit der eigenen Unberechenbarkeit erklärt die häufigen Provokationen und Zwischenfälle auf der koreanischen Halbinsel.

Westliche Musik ist in Nordkorea streng verboten. Trotzdem durfte die avantgardistische slowenische Rockgruppe Laibach Ende August in Pjöngjang auftreten.  Einige Stücke mussten die Musiker im letzten Augenblick streichen, aber die subversive Grundbotschaft  von Laibach blieb bestehen. Dass sich der Organisator von der Bühne bei Marshall Kim Jong Un ausgerechnet für die Förderung internationaler Beziehungen bedankte, war ein diplomatisches Muss, wirkte aber  wie eine Realsatire. Das Konzert war für Nordkorea eine Revolution, wundert sich  der Journalist Luca Faccio, der dabei war.

Provokative militärische Drohgebärden und eine fallweise Lockerung der selbstgemachten Isolation  bedingen einander, sie  sind für Nordkorea kein Widerspruch.