Die türkische Opposition braucht jetzt Hilfe der EU, 10.4.2019

Die Türkei ist keine Diktatur, trotz der willkürlichen Herrschaft des islamistischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Bei den Kommunalwahlen vom 31.3. haben sich sozialdemokratische und linksliberale Kandidaten in den meisten Großstädten durchgesetzt. Nur das Land brachte der regierenden Gerechtigkeitspartei AKP die gewohnten Erfolge. Wenn sich oppositionelle Bürgermeister in den Metropolen Istanbul und Ankara, in Izmir, Adana und Antalya halten, wäre das ein Zeichen auch für andere Staaten, dass freie Wahlen, solange es sie noch gibt, eine autoritäre Entwicklung bremsen können.
In Istanbul beträgt der Vorsprung des sozialdemokratischen Bürgermeisterkandidaten 16 500 Stimmen. Für eine 15 Millionenstadt ist das extrem knapp. Erdogans Gerechtigkeitspartei AKP hat eine Nachzählung durchgesetzt. Die Regierung wird an allen Schrauben drehen, um das Ruder herumzuwerfen. Aber die Wahlkommission hat sich trotz aller Manipulation die Fähigkeit bewahrt, den Präsidenten mit unangenehmen Tatsachen zu konfrontieren.
In den Riesenstädten Ankara und Istanbul leben 30 Prozent der Bevölkerung. Der Rückschlag für die Islamisten ist bemerkenswert, weil sich die Medien völlig in den Händen des Erdogan Clans befinden. ORF-Korrespondent Jörg Winter sagt, wenn man durch Istanbul geht, sieht man fast nur AKP-Plakate. Zeitungen, Fernsehen, Radio, trommeln flächendeckend für die Regierungspartei. Der linke Herausforderer in Istanbul, Ekrem Imamoglu, war im Wahlkampf kaum wahrzunehmen.
Trotzdem war der ruhige Oppositionspolitiker erfolgreich. Immer mehr Menschen haben die destruktive Rhetorik satt, argumentiert der Türkei-Experte Jörg Winter. Erdogan hatte die Bürgermeisterwahlen zur Überlebensschlacht für seine islamistisch-konservative Vision stilisiert. Oppositionelle Mitbewerber wurden als Terroristen, Vaterlandsverräter und feindliche Agenten denunziert. Ein derartiges Ausmaß an Hetze hatte es bei keinem Wahlkampf der letzten Jahre gegeben. Die Wähler ließen sich nicht einschüchtern.
Die oppositionelle Republikanische Volkspartei CHP ist links, sie bezeichnet sich als sozialdemokratisch und steht in der von Staatsgründer Atatürk begründeten kemalistischen Tradition. Gegenüber dem konservativen Islamismus waren die Sozialdemokraten in der Defensive. Unterstützt wurden sie von der prokurdischen HDP, die in den Kurdengebieten punkten konnte. Die Kommunalwahlen sind ein kräftiges Lebenszeichen, auch wenn die AKP und die mit ihr verbündeten Ultranationalisten, auf das ganze Land berechnet, ihre Vorherrschaft verteidigen konnten.
Durch eine Verfassungsänderung, die 2017 mit knapper Mehrheit angenommen wurde, regiert Erdogan mit umfassenden Durchgriffsrechten. Die nächsten Wahlen gibt es erst in viereinhalb Jahren. In welche Richtung das Land geht, wird von den Machtverhältnissen im islamistischen Lager abhängen. Der Rückschlag bei den Gemeinderatswahlen erhöht den Spielraum für gemäßigte Konservative um den früheren Präsidenten Abdullah Gül.
In der Vergangenheit hat Erdogan linksliberale Bürgermeister der von Kurden getragenen Demokratischen Volkspartei HDP unter Terrorismusvorwürfen abgesetzt oder inhaftiert. Bei den Sozialdemokraten in den Großstädten wird das nicht möglich sein.
Zur Schlappe an den Urnen kommt die Gefahr einer Währungskrise. Die türkische Lira befindet sich im freien Fall. Die Währungsreserven der Nationalbank sind auf 25 Milliarden US-Dollar geschrumpft. Das Land hat Auslandsschulden in der Höhe von 130 Milliarden US-Dollar, die demnächst fällig werden. Das Damoklesschwert einer Rettung durch den Internationalen Währungsfonds steht im Raum.
Im Internationalen Währungsfonds haben die USA das Sagen. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt geht Erdogan wegen eines Rüstungsprojekts in Clinch mit der Trump-Administration. Die türkische Regierung will ein russisches Raketenabwehrsystem anschaffen. Bisher haben Patriot Abfangsysteme der NATO, bedient von Europäern, den türkischen Luftraum geschützt. Für das Pentagon sind russische Geräte in einem NATO-Land ein rotes Tuch. Die US-Militärs fürchten, dass die Russen durch die S-400-Raketen Informationen über amerikanische Kampfflugzeuge erhalten. Ein Wechsel der Türkei von der NATO in Richtung Russland wäre ein Umbruch für die gesamte Region. Im Fall einer Schuldenkrise wird Erdogan aus Washington kaum mit Nachsicht rechnen können.
In der EU ist ein harter Kurs gegen die Türkei populär. Die Europäische Volkspartei hat den Abbruch der Beitrittsverhandlungen zum Wahlziel gemacht, obwohl die Gespräche sowieso auf Eis liegen. Die Erfolge der Opposition erinnern daran, dass die Türkei auch nach Jahren der illiberalen Herrschaft Erdogans kein monolithischer Block ist. Statt Hürden aufzubauen sollte Europa überlegen, wie man die neuen, linksliberalen Bürgermeister unterstützen kann.

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