Ansteckungsgefahr. Das Virus und die Weltpolitik

Die spanische Grippe hat zwischen 1918 und 1920 bis zu 50 Millionen Menschen getötet. Die amerikanische Infanterie verlor in der Epidemie mehr Soldaten als in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Egon Schiele war das prominenteste Opfer in Wien. Es sind um vieles mehr Menschen an der Infektion gestorben als durch Giftgas, Maschinengewehre und Panzer auf dem Schlachtfeld. Trotzdem hat nicht die Pandemie, sondern der Krieg die Welt zu Beginn des 20.Jahrhunderts politisch verändert.
Epidemien schaffen nicht unbedingt neue Realitäten, aber sie verstärken gesellschaftliche Trends. Das Coronavirus fällt mit dem weltweiten Aufstieg des Nationalismus zusammen, der die Abschottung von Staaten und Wirtschaftsräumen vorantreibt. Hindernisse für die Mobilität sind jetzt auch medizinisch angezeigt. Eine giftige Kombination.
Die Unterschiede in der Mortalität zwischen Covid-19 und der regulären Grippe sind beträchtlich. China, Südkorea und Italien melden Sterblichkeitszahlen, die jene der Influenza um ein Vielfaches übertreffen. Eine Epidemie, die 90 Staaten erfasst, hat es in der jüngeren Vergangenheit nicht gegeben. Dementsprechend einschneidend sind die Folgen. Der Weltwirtschaft droht eine Rezession. Flugzeuge bleiben am Boden, Lagerhallen leeren sich, Schulen und Universitäten schließen. Niemand kann sagen, wohin die Unterbrechung der Lieferketten führen wird. Die Seuche hat zu einer Ausnahmesituation geführt.
Auffällig ist, wie weit sich die internationale Gemeinschaft vom Gedanken einer solidarischen Krisenbewältigung entfernt hat. Man sieht die Bilder von leeren Stadtautobahnen im chinesischen Wuhan und verlassenen Marktplätzen in der Lombardei. Ärzte im Astronautenlook und Desinfektionsfahrzeuge auf offener Straße hinterlassen ein schauriges Gefühl. Aber anders als sonst bei Katastrophen, fällt niemand ein, Schutzanzüge oder gar medizinische Helfer in besonders stark getroffene Regionen zu schicken. Einige EU-Staaten wollen den Export von Gesichtsmasken und Medikamenten unterbinden. Amerikanische Regierungsvertreter verdächtigen ein chinesisches Biowaffenlabor in Wuhan als Ursprung des Virus. Im Iran glaubt man an eine Verschwörung der USA. Saudi Arabien beschuldigt umgekehrt den Iran. Alles ohne Beweise. Die Regierungen signalisieren, dass im Umgang mit dem Virus jedes Land auf sich alleine gestellt ist.
Die Volksrepublik China führt den Kampf zur Eindämmung der Epidemie als Volkskrieg unter dem Kommando der Partei. Quarantäne für Millionenstädte heißt, dass die Behörden zu Zwangsmaßnahmen jeder Art autorisiert sind. Im Internet kursieren Bilder, wie die Polizei Hauseingänge mit Pfählen blockiert. Die Zensur ist strenger denn je. In Wohnblocks haben Aufpasser das Sagen. Aber die Maßnahmen greifen, die Infektion geht zurück. Amerika kommt in dieser Darstellung primär als Rivale vor, der China alles Schlechte wünscht. Die Gefahr ist groß, dass dieser autoritäre Schub nicht so bald zurückgehen wird.
In den USA ist die Ignoranz der Administration gegenüber der Ansteckungsgefahr zu einer unerwarteten Belastung für den Präsidenten geworden. Trump hat das Virus als „hoax“ der Demokraten abgetan. Gleichzeitig glaubte man in der US-Regierung an Vorteile für die heimische Wirtschaft, wenn die Warenströme aus China unterbrochen sind. Der Börsenkrach hat diese protektionistischen Illusionen zerstört.
Covid-19 ist für die USA potentiell gefährlicher als für andere Regionen. Die wenigsten Amerikaner bleiben zu Hause, wenn sie gesundheitlich angeschlagen sind. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist selten. Die Ansteckungsgefahr am Arbeitsplatz ist hoch. Aus Kostengründen meidet man Spitäler. Die Medien berichten über Erkrankte, die sich nach Coronaverdacht mit hohen Rechnungen herumschlagen müssen. Dieses System erschwert es, die Verbreitung des Virus zu bremsen. Die Diskussion um ein öffentliches Gesundheitssystem, die von den Demokraten im Präsidentenwahlkampf geführt wird, bekommt neue Aktualität.
Europa hat bisher der Versuchung widerstanden, zwischenstaatliche Grenzen gegen das Virus hochzuziehen. Die Forderung der Rechtsextremen, wegen der Epidemie verschärft gegen Migranten vorzugehen, blieb im Hintergrund. Wenn sich die Krise in die Länge zieht, wird die Suche nach Sündenböcken stärker werden. Im Mittelalter hat sich die antisemitische Lüge von den Juden, die Brunnen vergiften, durch die Pest im 14.Jahrhundert, massenhaft verbreitet.
Epidemiologen lehren, dass es zur Eindämmung einer Seuche tatsächlich erforderlich ist Menschen auseinanderzuhalten. Die Ansteckungsgefahr in einer Region kann Monate, manchmal Jahre bestehen bleiben. Absperrungen, Kontrollen, Isolation, sind alles Maßnahmen, die medizinisch angezeigt sein mögen. Politisch sind sie in autoritären Zeiten gefährlich.