Wie unterschiedlich Amerikaner und Briten mit Masseneinwanderung umgehen, 26.11.2014

Barack Obamas Amnestie für Millionen Einwanderer, die in Amerika ohne die richtigen Papiere leben, hat einen Namen und ein Gesicht: das der freudenstrahlenden 26jährigen Collegestudentin Astrid Silva aus Las Vegas, deren Geschichte der Präsident erzählt. Beim illegalen Grenzübertritt in die USA hatte sie einst nur ihre Puppe und ein Kreuz mitgebracht. Sie war damals vier Jahre alt. Der Deportation ist die Familie mehrmals nur knapp entgangen. Astrids Vater, Cesar Carlos, betreut als Gartenarbeiter die Grünflächen in den Vorstädten von Las Vegas. Dank des Präsidentendekrets bekommen die Eltern jetzt erstmals rechtlich Boden unter den Füßen. Für Minderjährige, die illegal in die USA gekommen sind, gibt es einen schönen Namen: sie sind „Dreamer“. 2012 hat Obama die Abschiebung von „Dreamern“ gestoppt und ihnen einen legalen Status gegeben. Die neue Verordnung ermöglicht es jetzt auch den Eltern der „Dreamer“ eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, wenn sie mindestens fünf Jahre im Land sind. Ein Großteil der 11 Millionen Einwanderer ohne Aufenthaltstitel ist damit auf dem Weg Amerikaner zu werden. Das letzte Mal hat es 2005 in Spanien eine derart umfassende Amnestie für irreguläre Migranten gegeben. Mit der schubweisen Kurskorrektur in der Einwanderungspolitik passt Obama die Rechtslage der Wirklichkeit an. Jeder Amerikaner kennt die Trupps von Gartenarbeitern aus Guatemala oder Mexiko, die Äste sägen und Laub einsammeln. Sie zahlen Steuern und schicken die Kinder in die Schule. Aber meist fehlt ihnen die Arbeitserlaubnis. Und das heißt: jederzeit kann eine Razzia der US-Einwanderungsbehörde zur Deportation führen. Scharfe Anti-Einwanderungsrhetorik gehört zum Standardrepertoire der Tea Party. Die populistische Rechte verlangt nicht nur bessere Grenzzäune, sondern auch Massenausweisungen. Aber in Washington gibt es selbst bei den Republikanern nicht die Bereitschaft zu einem derartig radikalen Schritt. Eine umfassende Reform der Einwanderungspolitik per Gesetz, wie sie im Kongress seit Jahren versucht wird, ist am Druck der rechten Fundis jedoch gescheitert. Obama setzt mit seinem Reformdekret einen Schritt der gesellschaftlichen Vernunft und der Menschlichkeit. Nur Tage nach dem Wahlsieg der Republikaner im Kongress, wird Amerika multikultureller. Der Schachzug, der die Hardliner schäumen lässt, könnte sich auch politisch bezahlt machen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 werden die Latinos, die Bevölkerungsgruppe mit den größten Zuwachsraten, noch stärker als bisher zu den Demokraten tendieren. In Europa tobt die heißeste Debatte um Zuwanderung in Großbritannien. Die Rolle der amerikanischen Tea Party spielt die britische Unabhängigkeitspartei UKIP. Das Ziel sind nicht illegale Migranten aus Lateinamerika sondern legale Zuwanderer aus Polen, Rumänien und anderen EU-Staaten. Die Mischung von Antiausländerstimmung und EU-Feindlichkeit ist explosiv. Bei einer Nachwahl im Wahlkreis Rochester hat sich UKIP zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen mit einem von den Konservativen abgeworbenen Unterhausabgeordneten durchgesetzt. Nigel Farage, der charismatische Chef der britischen Rechtspopulisten, setzt Brüssel mit Massenzuwanderung gleich. Weil innerhalb der EU das Recht auf freien Personenverkehr gilt, habe Großbritannien die Kontrolle über seine Grenzen verloren. Der EU-Austritt sei der einzige Weg den Briten ihre Souveränität zurückzugeben. David Camerons Konservative sind in der Position der amerikanischen Republikaner: den rechten Rebellen wollen sie den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie ihre Kernthesen übernehmen. Von der Europäischen Union verlangt London Reformen, die es Großbritannien zulassen würden, eine Obergrenze für die Einwanderung einzuziehen. Andernfalls droht ein Austritt Großbritanniens beim Referendum 2017, das Cameron versprochen hat. Der Europäische Gerichtshof hat diesen Herbst bestätigt, dass EU-Bürger, die in ein Land kommen ohne Arbeit zu haben, keineswegs automatisch Zugang zum nationalstaatlichen Sozialsystem bekommen müssen. Aber Cameron reicht das nicht. Seine Forderung nach Einwanderungsgrenzen für EU-Bürger widerspricht den Grundlagen der europäischen Integration. Ein EU-Austritt wird inzwischen auch im deutschen Kanzleramt, das den Briten lange die Stange gehalten hat, nicht mehr ausgeschlossen. Labour Party-Chef Ed Miliband hat sich der Antiausländerstimmung bisher nicht angepasst. Er lehnt Camerons EU-Referendum ab. Aber Labour kommt sechs Monate vor dem Wahltermin nicht so richtig vom Fleck. Cameron muss seine Reformvorschläge noch präzisieren. Dann sind die anderen Regierungschefs der EU am Wort. Eine verfahrene Situation, die in Europa nicht durch die Executive Order eines mutigen Präsidenten umgedreht werden kann.