Wenn Freiheitskämpfer zu autoritären Führern werden

Nicaraguas sandinistischer Präsident Daniel Ortega hat den Sturm auf den Straßen vorläufig überstanden. Die Barrikaden, mit denen sich die protestierenden Studenten gegen die bewaffneten Paramilitärs der Regierung zur Wehr gesetzt haben, sind abgebaut. Die Regierung hat die Kontrolle wiederhergestellt. Nach Wochen des Schweigens hat sich Ortega im amerikanischen TV-Sender Fox News zu Wort gemeldet und einen Rücktritt ausgeschlossen. Aber die politischen Bruchlinien gehen tief. Humberto Ortega, einst sandinistischer Kommandant wie sein Bruder und Verteidigungsminister während des Krieges gegen die Contras, verlangt die Auflösung der von der Regierung gesteuerten Milizen. Linke Intellektuelle in Europa fordern eine internationale Untersuchung der Massaker an den Demonstranten und Neuwahlen.
Noch vor ein paar Wochen sind in dem mittelamerikanischen Kleinstaat Hunderttausende gegen die Regierung auf die Straße gegangen. Es waren die größten Demonstrationen, die es in Zentralamerika je gegeben hat. Die Protestbewegung, die als Widerstand gegen Kürzungspläne im Pensionssystem begonnen hatte, drohte zu einem arabischen Frühling im Kleinen auf lateinamerikanisch zu werden. Diese Gefahr ist für die Regierung gebannt.
Die blutige Repression, mit der Ortega seine Macht verteidigt, hat den Charakter des Regimes verändert. Vor 40 Jahren haben die Sandinisten das Land von der Herrschaft der Oligarchie unter Langzeitdiktator Somoza befreit. Diese emanzipatorische Kraft ist zerstört. Schon in den letzten Jahren hat sich der ehemalige Guerillaführer von vielen ehemaligen Mitkämpfern getrennt. Ein Bündnis mit den Unternehmerverbänden und der Schulterschluss mit den reaktionärsten Teilen der Amtskirche für ein strenges Abtreibungsverbot verstörten die Linke. Diese Zweckbündnisse sind jetzt Makulatur. Kirche und Bürgertum geben sich als Refugien für die demonstrierende Jugend. Seine medial allgegenwärtige Frau Rosario Murillo hat Ortega zur Vizepräsidentin gemacht, sie soll ihm im Amt nachfolgen.
Ortega und Murillo sind zu gewöhnlichen lateinamerikanischen Caudillos geworden. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 300 bis 450 erschossenen Demonstranten. 600 Jugendliche sind verschwunden, sie wurden während der Proteste von Paramilitärs entführt. Es ist eine schreckliche Bilanz für ein kleines Land von sechs Millionen Einwohnern. Seit dem Ende des von den USA unter Ronald Reagan angezettelten Krieges der Contras gegen die Sandinisten in den 1980er-Jahren hat es keinen derartigen Blutzoll mehr gegeben.
Nicaragua gehört unter Daniel Ortega mit Kuba, Venezuela und Bolivien zu einer nach dem Freiheitshelden Bolivar benannten bolivarischen Allianz der Antiimperialisten, die gegen die USA Front machen. Diese Staaten werden durch Erdöl aus Venezuela unterstützt. Aber der venezuelanische Machthaber Maduro wird im eigenen Land mit einem wirtschaftlichen Desaster historischen Ausmaßes nicht fertig. Die Inflation ist unvorstellbar hoch: Ökonomen sprechen von einer Millionen Prozent im Jahr. Die Versorgung in dem ölreichen Land ist zusammengebrochen.
Aus der von Venezuela finanzierten Allianz ist seit einem Präsidentenwechsel in Quito Ecuador ausgeschert. Präsident Lenin Morena versucht sich den USA anzunähern. Ein Opfer des Kurswechsels könnte Wikileaks-Gründer Julian Assange werden, dessen Exil in der ecuadorianischen Vertretung in London gefährdet ist. Beendet Ecuador das seit 2012 andauernde Asyl in der Botschaft, fürchtet Assange eine Auslieferung an die USA, wo ihm ein Verfahren wegen der Veröffentlichung amerikanischer Militärgeheimnisse droht. Egal, was man von Assange halten mag, wäre eine Übergabe Assanges an die US-Justiz ein gefährlicher Anschlag auf die Pressefreiheit weltweit.
Kuba, Venezuela und Bolivien haben sich in der nicaraguanischen Krise auf die Seite Daniel Ortegas gestellt. Die Studentendemonstrationen sind aus ihrer Sicht ein konterrevolutionärer Umsturzversuch, der von den USA geschürt wird. Ähnlich argumentierte Daniel Ortega selbst in seinem Rechtfertigungsinterview auf Fox News. Tatsächlich hat das amerikanische Außenministerium wiederholt gegen die Repression Stellung bezogen. Den sandinistischen Schießbefehl auf Demonstranten macht die Kritik aus Washington daran nicht besser. Die Logik ist aus der Zeit des Kalten Krieges bekannt: der Außenfeind Amerika war im sowjetischen Machtbereich die wichtigste Legitimation, um gegen Unzufriedene im eigenen Land vorzugehen. Menschenrechtsaktivisten wurden als amerikanische Agenten denunziert. Umgekehrt galten Linke im Westen als Handlanger Moskaus.
Die autoritären Regime der lateinamerikanischen Linken reproduzieren die hässlichsten Reflexe des Stalinismus. Sie beweisen damit, wie existentiell die Krise ist, in der sie stecken.
 

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