Warum die Demonstranten in der Ukraine die EU brauchen

Die Europäer reiben sich die Augen. Der Osteuropagipfel in Vilnius, der mangels Unterschrift der Ukraine unter ein heiß umkämpftes Assoziierungsabkommen  ins Leere ging, hat eine revolutionäre Umsturzbewegung  in Kiew ausgelöst. Die blaue EU-Fahne auf ukrainischen Barrikaden bringt das Machtgefüge im Osten ins Rutschen. Nicht nur die  nationalistische Westukraine will die Anbindung an Europa. Auch die städtischen Mittelschichten und große Teile der  Jugend  lehnen eine ausschließliche Orientierung auf Russland ab.    Die jugendlichen Demonstranten engagieren sich für politischen Pluralismus und Rechtsstaat. Sie verdienen die Unterstützung Europas.

Dabei hat Vladimir Putin schon geglaubt, dass diese Runde für ihn gewonnen ist. Der russische Präsident hatte es  geschafft den ukrainischen Präsidenten zu einer Kertwende in der Europapolitik zu drängen. Dabei ging es um mehr als reine Handelserleichterungen. Die Ukraine hätte mit einem Assoziierungsabkommen die Aussicht  bis hart an den Beitritt heranzukommen.  In ein paar Jahren wird es möglicherweise  verschiedene Kategorien von EU-Mitgliedern geben, sollte sich Großbritannien aus Kerneuropa verabschieden. Bei einem zukünftigen Umbauprozess der EU hätte eine assoziierte Ukraine mitspielen können.

Russland pocht  auf  historische Bindungen. Die Wurzeln der russischen Orthodoxie  liegen in Kiew. Im Osten des Landes,  dort wo die Industrie des Landes steht, ist der russische Bevölkerungsanteil  groß. Auf der Halbinsel Krim, wo viele  Russen und Krimtartaren leben, gilt Ukrainisch  fast als Fremdsprache. Aber selbst dort ist der Glanz Moskaus verblasst. Nach den alten Zeiten sehnen sich vor allem die Älteren, die Menschen auf dem Land und in den veralteten Industrien.

Die sinkende Attraktivität der stagnierenden russischen Gesellschaft steht in krassem Widerspruch zum Revival, das Moskau gerade in der Weltpolitik erlebt.  Bei den Verhandlungen um Syrien und mit dem Iran saß Russland mit am Tisch.  Die Zollunion, mit der  die ehemaligen Sowjetrepubliken an Moskau gebunden werden, ist die Grundlage des neuen geopolitischen Gewichts. Das wirtschaftliche Bündnis mit  Kasachstan, und Weißrussland, dem sich inzwischen auch Armenien angeschlossen hat, funktioniert als russisches Ersatzimperium.

Nicht ganz überraschend hat Vladimir Putin alle Druckmittel eingesetzt,  um zu verhindern,  dass sich ein  so wichtiges Nachbarland wie die Ukraine aus dem eigenen Einflussbereich verabschiedet.

Moskau geht es dabei immer auch um Sicherheitspolitik. Dem Kreml sitzt der Schrecken noch in den Gliedern, als die USA unter George W.Bush einen NATO-Beitritt Georgiens und der Ukraine betrieben haben. Ursprünglich hat Russland die EU  als rein europäische Verbindung nicht zu den Außenfeinden gezählt.  Aber unter Putin überwiegen die Abschottungstendenzen. Moskaus Verbündete sind  Diktaturen.  Brüssel ist mit den demokratischen Ansprüchen der EU  inzwischen  ebenfalls zum roten Tuch für den Kreml geworden.

Die plötzliche Absage der  ukrainischen Führung  hat die EU-Spitze überrascht. Die Soft Power der EU, mit dem Akzent auf  Rechtsstaat, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Visaerleichterungen, ist in der Auseinandersetzung mit Vladimir Putin an ihre Grenzen gestoßen. Für ein geopolitisches Machtpoker ist die Europäische Union schlecht gerüstet. Die Lücke füllen jetzt die Hunderttausenden, die in der Ukraine für die Europäische Union auf die Straße gehen.

Die harten Worte der enttäuschten EU-Spitze beim Ostgipfel in Vilnius mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Herman Van Rompuy, der sonst so zurückhaltende Ratspräsident, sprach von einer Verletzung der Souveränität europäischer Staaten. Er erinnerte an die Prinzipien von Helsinki aus der Zeit des  Kalten Krieg, die das verbieten.  Kommissionspräsident Barroso  warnte, die Zeiten der begrenzten Souveränität sind vorbei.   Tatsächlich wäre es ein Rückschritt in Ostblockzeiten, wenn Russland ein Vetorecht für die Außenpolitik der Staaten in seiner Nachbarschaft durchsetzen könnte.

Aber das heißt nicht, dass ein geopolitischer Streit  unvermeidlich ist, in dem die Ukraine sich entweder ganz für Moskau oder ganz für Brüssel entscheiden muss.   Die Ukraine kann sich langfristig  nur als Brücke zwischen der Europäischen Union und Russland entwickeln.  Die Idee, dass bei Verhandlungen zu dritt, zwischen den EU-Staaten, der Ukraine und Russland, eine neue Sicherheitsarchitektur  für den gesamten Kontinent entstehen könnte, sollten die Europäer  nicht einfach verwerfen.

In einem Punkt kann der Westen getrost einen Rückzieher machen: auf die Perspektive eine NATO-Beitritts ehemaliger Sowjetrepubliken, die einst von George W.Bush verfolgt wurde,  sollte das Atlantische Bündnis verzichten. Es ist ein  illusorisches Vorhaben, das trotzdem formell nicht aufgegeben wurde.   Die Neutralität nach Schweizer oder österreichischem Vorbild wäre für die Ukraine oder Georgien eine  solidere  Grundlage,   um gegenüber dem großen Nachbarn  auf  volle Souveränität zu pochen. Der  Angst  Russlands von feindlichen Kräften  eingekreist zu sein, wäre der Boden entzogen. Moskau könnte der  Annäherung der Ukraine an Europa entspannter gegenüber treten.