Europa ist von einer eigenartigen Manie erfasst. Die Staaten wetteifern mit Volksabstimmungen gegen die EU.
Da konnte die Ukraine noch so sehr auf die Verbindung mit Europa setzen: das Wahlvolk in den Niederlanden verwarf das ersehnte Assoziierungsabkommen mit der EU. Details spielten keine Rolle. Es sollte eine Ohrfeige gegen Brüssel sein. Regierungschef Mark Rutte in Den Haag denkt jetzt nach, wie das Ergebnis so umgedeutet werden kann, dass in Osteuropa nicht noch mehr Chaos entsteht.
Ungarns Premier Orban will die Bürger zur Flüchtlingsaufteilung konsultieren. Er will wissen, ob „ die Europäische Union die Kompetenz haben soll, in Ungarn nicht-ungarische Bürger zwangsweise ohne die Zustimmung der ungarischen Nationalversammlung anzusiedeln?“ Man beachte die unparteiische Formulierung, höhnt dazu der britische Economist. Ein mit qualifizierter Mehrheit gefasster, gültiger EU-Beschluss soll ausgehebelt werden.
Dagegen ist die Brexit-Frage beim britischen Referendum am 23.Juni glasklar: „Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?“ Konkreten Anlass für eine derart weitreichende Entscheidung gibt es keinen. Als Tory-Chef David Cameron 2013 sich auf das Referendum festlegte, glaubte er einer rechtsnationalistischen Revolte in der eigenen Partei aus dem Wege zu gehen. Drei Jahre später ist klar, dass dieses Kalkül nicht aufgeht. Im wendigen Boris Johnson ist Cameron im Referendums-Wahlkampf ein gefährlicher Rivale gewachsen. Sogar der wahnwitzige Vergleich der EU mit Hitlers Plänen kann der Popularität des ehemaligen Londoner Bürgermeisters nichts anhaben.
Volksabstimmungen gelten als superdemokratisch. In Wirklichkeit sind sie oft nur Notbremsen, wenn Politiker mit ihrem Latein am Ende sind oder wenn sie sich populistisch auf eine Welle daraufsetzen. Europa ist ein einfaches Ziel, sind Entscheidungsfindungen unter 28 Staaten doch nur durch Rücksichtsnahmen auf andere möglich. Das schafft Spielraum für jede Art von Opposition. Kompromisse erfordern die Mechanismen der repräsentativen Demokratie. Dagegen gibt es bei einem Referendum immer Sieger und Verlierer.
Gleich zwei Volksabstimmungen gab es seinerzeit zum EU- Reformvertrag in Irland. Zuerst stimmten 53 Prozent dagegen. Zwei Jahre später waren 67 Prozent dafür. Die Regierung in Dublin hatte in der Zwischenzeit festschreiben lassen, was sowieso nie in Zweifel stand: dass Irland seine Neutralität behält und kein EU-Gesetz das Recht auf Abtreibung verordnen darf. Alexis Tsipras schaffte in Griechenland das Kunststück, das Sparprogramm der Geldgeber von den Wählern verwerfen zu lassen, um wenige Wochen später zu realisieren, dass er noch härteren Auflagen zustimmen muss, um den Bankrott des Landes zu vermeiden.
Es gibt heute in Europa drei Mal mehr Volksabstimmungen als in den 1970er Jahren. Das grassierende Misstrauen in die Politik wurde nicht gestoppt.
Sekundiert von Barack Obama, Chinas Xi Jinping und dem Internationalen Währungsfonds beschwört David Cameron die Wähler, dass Großbritannien sich nicht abschotten soll von der Entwicklung des Kontinents. Der kühle Regierungschef klingt plötzlich wie ein überzeugter Europäer. Hätte er diese Linie bereits vor Jahren vertreten, wäre die Stimmung heute anders.
Gewinnen die Anhänger des britischen EU-Austritts, ist offen, was genau passieren wird. Brexit könnte zum Signal für eine europaweite Absetzbewegung von Brüssel werden. Ein neues Unabhängigkeitsreferendum in Schottland steht im Raum. Die Einheit des Vereinigten Königreiches wäre gefährdet. Aber London könnte wie die Schweiz durch zahlreiche Separatverträge an die Union gebunden bleiben. Ohne das aktive Mitspracherecht eines Mitgliedsstaates.
Entscheiden sich die Wähler dagegen für die Union, wäre das eine gewaltige Niederlage für die Nationalisten. Klug gespielt könnte aus einem Ja zu Europa durch die notorisch skeptischen Briten ein Energieschub für die Integration werden. Deutschland, Frankreich und Italien überlegen einen engeren politischen Zusammenschluss mit dem Euro als Fundament.
Nicht nur populistischer Nationalismus, verstärkt durch die Anti-EU-Hetze in der Boulevardpresse, gefährdet allerdings die britische EU-Anbindung. Häufig beantworten die Wähler bei Volksabstimmungen ganz andere Fragen als jene, die gestellt sind. Sie beurteilen die Glaubwürdigkeit der amtierenden Regierungen. Um die ist es in der Europapolitik nirgendwo gut bestellt.