NGOs kritisieren Australiens Flüchtlingspolitik, Unterlagen ORF Online, 18.6.2016

Während die harte Linie Australiens gegenüber Bootflüchtlingen in Europa auf verstärktes Interesse stößt, erhaben australische Menschenrechtsanwälte schwere Vorwürfe gegen das Vorgehen der Regierung in Canberra. Die Marine drängt Flüchtlingsboote ab oder die Insassen werden in Anhaltelager auf entfernte Pazifikinseln gebracht. Knapp 2000 Boat People befinden sich gegenwärtig auf   Papua-Neuguinea und dem Inselstaat Nauru. Sogar bei einem positiven Verlauf ihres Asylverfahrens werden die Flüchtlinge nicht nach Australien gelassen.

Dass die gezielte Abschreckung von Flüchtlingsschiffen in Europa manchmal als Erfolg angesehen wird, weil wenig Boat People bis in die australischen Gewässer kommen, kann der Präsident des Refugee Council of Australia Phil Glendenning in Sydney nicht nachvollziehen. „Australien sagt, stirb wo anders, nur nicht bei uns, in unseren Häfen, wo das australische Fernsehen dabei ist. Wenn Flüchtlinge vertrieben werden, verschwinden sie doch nicht. Im letzten Jahr waren 53 000 Boat People im Pazifik unterwegs. Wir wissen nicht, was mit denen passiert.“

Daniel Webb ist einer der angesehensten Juristen Australiens und Direktor im Human Rights Law Centre in Melbourne. „Abschreckung ist grundsätzlich ein grausames Konzept.“, sagt der Menschenrechtsanwalt. „Ob man das als Erfolg ansieht, ist eine Definitionsfrage. Ich bin in den letzten Monaten dutzenden Frauen gegenüber gesessen, die im Australischen Lager Nauru sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Ich habe weinende Eltern gesehen, die erleben, wie sich der mentale Zustand ihrer Kinder ständig verschlechtert. Unschuldige Menschen bewusst auf fernen Inseln unbegrenzt einsperren, das kann nicht die Lösung sein.“

Daniel Webb hat auf Grund einer Genehmigung des Höchstgerichtes von Papua Neuguinea das australische Flüchtlingslager auf der Insel Manus besucht. Er ist einer der wenigen, die über die Zustände im Internierungslager sprechen dürfen, ohne Gefängnisstrafen zu riskieren. Es gelten strenge Geheimhaltungsregeln, Journalisten sind keine erlaubt. „Die Zustände sind schockierend. In einem einzigen Raum sind 112 Doppelbetten so eng aneinander gereiht, dass niemand durchkann.“ Viele Männer sind seit drei Jahren dort.“ Sie haben keine Ahnung, wie lange sie hier bleiben müssen und wie ihr Leben dann weiter gehen wird.“

Vor wenigen Wochen gab es einen politischen Donnerschlag: das Höchstgericht des Staates Papua-Neuguinea hat das Lager, das die Regierung des Inselstaates für viel Geld gemeinsam mit Australien auf der Marineinsel Manus unterhält, für illegal erklärt. Jetzt sucht die Regierung in Canberra nach einem Ausweg, der aber nicht vor den australischen Parlamentswahlen am 2.Juli zu erwarten ist.

Das zweite australische Internierungslager für Boat People liegt auf dem pazifischen Inselstaat Nauru. „Nauru ist eigentlich ein Dorf“, sagt ein europäischer Diplomat in Canberra. Die Miniinsel ist nicht viel größer als ein australischer Flughafen. Bei 10 000 Einwohnern sind 1000 Flüchtlinge schwer zu verkraften.

Eine winzige Lücke in dem abgeschlossenen System der sogenannten „Pazifischen Lösung“ gibt es: Insassen mit akuten medizinischen Problemen, die vor Ort nicht behandelt werden können, werden von den Insellager in Flüchtlingslager auf dem australischen Kontinent gebracht. Sie sind aber ständig von der Ausweisung zurück auf die Inseln bedroht.

Im Süden Australiens liegt die sogenannte Immigration Transit Accomodation in einem Militärareal am Stadtrand von Melbourne. Pamela Curr ist eine der angesehensten Flüchtlingsbetreuerinnen des Landes. Sie besucht mehrmals im Monat Flüchtlinge, die aus medizinischen Gründen vorübergehend aus dem Insellager Manus nach Melbourne gebracht wurden.

Bei einem Besuch der Melbourne Immigration Transit Accomodation Mitte Juni bin ich als private Begleitperson dabei. Ich unterschreibe, dass ich mich an alle Vorschriften der Australien Boarder Force halte und gebe mein Handy ab. Dann bin ich im großen Besucherzimmer, wo Frauen australischer Hilfsorganisationen versuchen ihren Schützlingen Mut zu machen. Es sind Menschen aus Nepal, Sri Lanka, Uganda, Somalia, dem Iran, die die lebensgefährliche Bootsfahrt von Indonesien in Richtung Australien überlebt haben, aber jetzt interniert sind.

„Vor allem die Frauen sind alle schwer traumatisiert“, sagt Pamela Curr. “Nicht nur von der Flucht über das Meer, sondern genauso durch sexuelle Angriffe und Vergewaltigungen, denen die Frauen im Lager Nauru ausgesetzt sind.“ Gewalt gegen Frauen im Flüchtlingslager geht nach den Erzählungen der Frauen sowohl vom australischen Personal als auch von lokalen Wächtern aus, sagt Pamela Curr. „Die Frauen erzählen, dass sie Angst haben in der Nacht auf die Toilette zu gehen, weil so viel passiert.“

Die Regierung in Canberra hat auf Druck einer grünen Senatorin angesichts der vielen Horrorgeschichten aus Nauru eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben, die vom Integrationsexperten Philip Moss durchgeführt wurden. Der Moss-Bericht hat in Nauru zahlreiche Fälle von Gewalt gegen Frauen und sexueller Ausbeutung ausgemacht.

Helferin Pamela Curr umarmt im Besucherzentrum des Flüchtlingslagers Melbourne eine schmächtige Frau aus dem arabischen Minderheitengebiet im Iran. Ihren Namen möchte sie nicht in einem Medium lesen, ich nenne sie Aisha. Mit ihrem Mann und zwei Kindern wollte Aisha von Indonesien nach Australien fliehen, weil Familienmitglieder im Iran verhaftet und gefoltert wurden. „Nach eineinhalb Jahren auf dem Insellager Nauru denke ich, es wäre besser, wir wären alle auf der Bootsfahrt ertrunken“, sagt Aisha mit starren, traurigen Augen. Sie hat unter den weiblichen Häftlingen auf Nauru einen Fragebogen erstellt, um den Regierungsbeauftragten Philip Moss das Ausmaße der sexuellen Gewalt gegen Insassen klar zu machen.

Die Angst der Frauen vor Übergriffen und Vergewaltigungen, wenn sie nach dem Krankenhausaufenthalt in Australien wieder zurück sollen nach Nauru, ist riesig, sagt Pamela Curr. „Vor drei Woche hat sich eine junge Frau aus Somalia, die ich gut kenne, in Nauru eine Flasche Benzin gekauft und hat sich damit selbst angezündet. Sie heißt Hodan Yasin, sie ist 19 Jahre alt. Drei Tage vor dem Selbstmordversuch ist sie gegen ihren Willen aus Australien wieder nach Nauru gebracht worden. Sie will nur noch sterben.“ Es ist nur einer von mehreren Verzweiflungstaten auf den Flüchtlingsinseln. Hodan Yasin hat die Selbstanzündung überlebt und liegt jetzt schwer verletzt in einem Spital in Brisbane.

So lange Abschreckung das wichtigste Ziel der australischen Flüchtlingspolitik ist, wird die humanitäre Situation für Boat People in den Flüchtlingslagern der entfernten Pazifikinsel nicht grundsätzlich verbessert werden, fürchten die Menschenrechtsaktivisten.

Die australischen Bürger sind gespalten. Eine Umfrage des Fernsehsenders ABC mit dem Namen „vote compass“ vor den Wahlen ergibt, dass 49 Prozent die Blockade von Flüchtlingsbooten befürworten und 49 Prozent sie ablehnen. Aber es häufen sich nicht nur die humanitären Probleme. Jeder einzelne Flüchtling im Rahmen dieser sogenannten „Pacific Solution“ kostet Australien im Jahr 270 000 Euro. So teuer sind der Aufwand der Marine und die Betreibung der Insellager.  Nach den Parlamentswahlen am 2.Juli steht dem Land vor eine neuerliche Diskussion bevor, wie mit den Flüchtlingslagern umzugehen ist, die Menschenrechtsorganisationen als Schandfleck für die australische Demokratie ansehen.

http://orf.at/stories/2345252/2344949/