Claudia Sheinbaum ist der neue Star der lateinamerikanischen Linken. Die 61-jährige Umweltexpertin tritt am 1.Oktober ihr Amt als mexikanische Präsidentin an. Bei den Wahlen Anfang Juni erhielt sie sensationelle 60 Prozent der Stimmen, trotz einer mit antisemitischen Untertönen geführten Kampagne der vereinigten Rechtsparteien. Der populäre amtierende Präsident Andres Manuel Obrador („AMLO“) hat die ökonomisch Schwächsten durch staatliche Sozialtransfers unterstützt. Er kann laut Verfassung nicht mehr kandidieren. Claudia Sheinbaum, Bürgermeisterin von Mexiko City, war die Kandidatin von Obradors Nationaler Erneuerungsbewegung Morena.
Das Feindbild der Regierungspartei sind die „neoliberalen Eliten“. Dank der Erhöhung von Mindestlöhnen und neuen Sozialleistungen sind Millionen Menschen aus der schlimmsten Armut befreit worden. Nur in Brasilien hat es in den ersten Regierungsjahren von Luiz Ignacio Lula da Silva vergleichbare Reformen gegeben.
Mit 125 Millionen Einwohnern ist Mexiko der zweitgrößte Staat Lateinamerikas. Der Triumph Claudia Sheinbaums spiegelt tiefgreifende gesellschaftlichen Veränderungen wieder. Die Großeltern der zukünftigen Präsidentin sind vor dem Zweiten Weltkrieg als jüdische Kommunisten aus Bulgarien und Litauen eingewandert. Der konservative Ex-Präsident Vincente Fox wollte sie als „ausländische Jüdin“ diskreditieren. Dass sie Atheistin ist, geschieden und wieder verheiratet, störte die Bischöfe, nicht das Volk. Sie hat an der US-Universität Berkeley studiert und machte als Klimaexpertin an der Nationalen Universität Mexikos Karriere, bevor sie Obrador überzeugte in die Politik zu gehen.
Sheinbaum ist die erste Frau in der mexikanischen Spitzenpolitik. Zum Feminismus blieb sie als traditionelle Linke anfangs auf Distanz. Inzwischen ist Frauenpolitik, die ihrem Mentor AMLO fremd ist, zu einem Markenzeichen geworden. Weibliche Polizeibeamte, spezielle Sozialprogramme für Frauen und der Kampf gegen Femizide gehörten zu den Schwerpunkten ihrer Stadtverwaltung in Mexiko City. Die sozialen Medien Mexikos sind voll von Berichten, wie das Selbstbewusstsein junger Frauen in dem für seinem Machismo verrufenen Land durch Sheinbaum wächst.
Obrador, genannt AMLO, der Noch-Präsident, war mit der Brechstange erfolgreich. Gegen Wahlbetrug der rechten Eliten ließ er das halbe Land mit Straßenblockaden lahm legen. Claudia Scheinbaum hält an Milliardensubventionen in die staatliche Erdölindustrie und gigantomanischen Infrastrukturprojekten des Vorgängers fest. Im politischen Stil ist die kluge Expertin, inzwischen allgemein als „Claudia“ tituliert, ein Kontrast zum polternden Populismus des Vorgängers. Sollte der populäre Obrador nach dem 1.Oktober der neuen Präsidentin nicht klar den Vortritt lassen, könnte das zu einem Problem werden.
In Kommentaren vieler internationalen Medien gilt Obrador als Linkspopulist, der mit autoritärem Gehabe die Demokratie gefährdet. Noch vor dem Regierungswechsel will er eine Verfassungsänderung durchsetzen, um Höchstrichter in Zukunft vom Volk wählen zu lassen. Die unabhängige Wahlbehörde soll dem Innenministerium unterstellt werden.
Der liberale britische Economist sieht wegen der potentiellen Verfassungsänderungen im Erfolg Sheinbaums eine Gefahr für die Demokratie. Negativbeispiele für die Entwicklung von Linkspopulismus zu Diktaturen gibt es genug. Hugo Chavez begann in Venezuela als aufmüpfiger Militär gegen die Eliten. Der Chavismo endete im wirtschaftlichen Elend und einem diktatorischen Regime. Die Dynamik in Mexiko ist völlig anders. Nach Jahrzehnten der Herrschaft der Staatspartei PRI hat eine demokratische Öffnung zu einem Mehrparteiensystem geführt. Die soziale Ungleichheit blieb unverändert. Um demokratische Strukturen im Volk zu verankern muss die Allianz der Wirtschaftseliten mit staatlichen Machtträgern aufgebrochen werden.
Ungelöst ist die allgegenwärtige kriminelle Gewalt, der auch im Wahlkampf Hunderte zum Opfer gefallen sind. Verbrechersyndikate sind durch Drogenhandel in die USA reich und mächtig geworden. Der lange Arm der Mafiakartelle reicht in Polizeistationen und Provinzregierungen. Obrador hofft durch bessere Lebensbedingungen für die Armen der Drogenkriminalität den Boden zu entziehen. „Umarmugen statt Kugeln“ war seine Parole. Erfolgreich war er damit nicht.
Claudia Sheinbaums Triumph strahlt über die Grenzen des Landes hinaus. Von einem „feministischen Erdbeben“ spricht die langjährige Korrespondentin von Le Monde. Vom Sieg einer „Politik für die Armen“ der britische Guardian. In einer Zeit des globalen kulturellen und sozialen Backclash zeigt die mexikanische Aufbruchstimmung, dass es Alternativen gibt.
ZUSATZINFORMATIONEN
Lawine der Gewalt
36 Kandidaten wurden im Wahlkampf Opfer von Anschlägen. 2020 meldete das Innenministerium 34 000 Morde. Zumeist die Folge von Drogenkriegen zwischen Banden, die um die Schmuggelrouten zu den Konsumenten in den USA kämpfen.