Europa und Katalonien, 15.10.2017

Seit dem Unabhängigkeitsreferendum vom 1.Oktober erlebt Spanien einen Clash der Nationalismen, wie es ihn in Westeuropa seit dem Ende des Nordirlandkonflikts nicht mehr gegeben hat.  Hunderttausende demonstrieren in Barcelona für die rasche Trennung von Spanien. Katalonische Bürger, die bisher auf Distanz zu den Separatisten waren, sehen die Polizeigewalt der Guardia Civil gegen Wahllokale als Anschlag auf die Demokratie.
Die aufgepeitschte Stimmung hat auch Madrid erfasst. Unter umgekehrten Vorzeichen.  Spanische Fahnen säumen die Straßen der Hauptstadt, als Signal gegen das katalonische Fahnenmeer in Barcelona. Die Verfassung erlaubt keine Abspaltung einer Region. Die Bürger Spaniens wollen Katalonien nicht gehen lassen.  Der Spielraum für Kompromisse schrumpft.
Wenn das katalonische Parlament tatsächlich die Unabhängigkeit erklärt, wird Madrid die regionale Autonomie aufheben. Der katalonische Regierungschef und seine Mitarbeiter könnten wegen Landesverrat verhaftet werden. Der Ausnahmezustand wäre nicht weit.
Die spanische Demokratie steht an der Kippe.
Nationalistische Regionalbewegungen gibt es in halb Europa. Die schottischen Separatisten überlegen nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum vor drei Jahren einen neuen Anlauf. In Belgien sitzen die flämischen Separatisten zwar in der Regierung, halten an ihrem Ziel eines unabhängigen Flanderns aber fest. Die rassistische Lega Nord in Italien schwärmt vom eigenen Staat Padania, mit je nach politischer Opportunität wechselnder Radikalität. In Spanien hat die baskische ETA ihren terroristischen Kampf für die Unabhängigkeit erst vor wenigen Jahren eingestellt.
Nicht der Kampf gegen nationale Unterdrückung ist die entscheidende Triebkraft für den Separatismus, denn sprachlich und kulturell haben die Volksgruppen in Europa alle Möglichkeiten. Im Vordergrund steht die Sehnsucht nach Anerkennung der eigenen Identität. Dazu kommt der Geiz wohlhabender Regionen gegenüber dem Zentralstaat, der Steuergelder in als korrupt geltende ärmere Provinzen pumpt.
Katalonien ist eng mit der europäischen Linken verbunden. Die Interbrigadisten, die im spanischen Bürgerkrieg der Republik zu Hilfe kamen, sind in Barcelona an Land gegangen. George Orwell hat den todesmutigen Widerstand der Arbeitermilizen gegen die putschenden Militärs um Franco beschrieben. An der Spitze standen Linkssozialisten, Anarchisten und Trotzkisten. Es folgte die gnadenlose Repression der stalinistischen Geheimpolizei gegen undogmatische Freiheitskämpfer.
Gleichzeitig ist Katalonien auch eine Erfolgsgeschichte der europäischen Demokratie. Das Ende der Diktaturen eröffnete Spanien den Weg zur Teilnahme an der Europäischen Integration. Die unter Franco verbotene katalonische Sprache erlebte ein Comeback. Die Kultur blühte auf.  Das heutige Barcelona, modern, wohlhabend und vielfältig, ist ein Resultat der Öffnung.
Nicht verwunderlich, dass die europäische Öffentlichkeit zu Katalonien im Widerspruch der Gefühle steht. Die Brechstangenpolitik des spanischen Regierungschefs Rajoy schreckt ab, auch wenn er juridisch im Recht ist. Aber eine Balkanisierung Europas durch Kleinstaaten verheißt keine gute Zukunft. Damit ein Europa der Regionen bei geschwächten Nationalstaaten funktionieren könnte, wäre eine starke EU mit Bundesstaatsfunktionen erforderlich. Die ist jedoch nicht in Sicht.
Gegen die nationalistische Welle gehen in Spanien Bürger in weiß auf die Straße. Sie fordern von Barcelona und Madrid den Dialog, der bisher verweigert wurde. Europäische Politiker haben sich in der Vergangenheit immer wieder bei Demonstrationen für Demokratie in der Nachbarschaft engagiert. An die Tradition sollte man im EU-Staat Spanien anknüpfen. Die europäischen Verträge geben Brüssel keine Kompetenz die innere Organisation von Mitgliedsstaaten mitzugestalten, so heißt es. Um sich in die Meinungsbildung einzuschalten, braucht man in Europa keine Genehmigung. Beide, die katalonischen Nationalisten und der spanische Zentralstaat, wollen zum Kern der EU gehören. Wenn sie ihre verantwortungslose Eskalation nicht beenden, wird dieser Weg verbaut sein.
Um Frieden zu finden, muss sich Spanien in die Richtung eines Bundesstaates entwickeln, der Katalonien so viel Autonomie gewährt, wie Italien Südtirol oder wie das englischsprachige Kanada dem französischsprachigen Quebec. Die Anerkennung einer Minderheit als Nation ist kein Widerspruch zu einem funktionierenden Staat, wie in Kanada bewiesen wird. Ihre Scheu, sich in die spanisch-katalonische Auseinandersetzung einzuschalten, sollten Juncker, Merkel, Marcon &Co ablegen.  Gelingt es Barcelona und Madrid das nationalistische Showdown zu beenden, würde nicht nur Spanien, sondern ganz Europa aufatmen.

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