In Tunesien, dem Land, in dem die Revolte gegen die arabischen Diktatoren begonnen hat, brennen wieder Polizeikommissariate und Rathäuser. Preiserhöhungen für Benzin und Grundnahrungsmittel treiben die Jugend auf die Straße. Scheinbar ganz so wie vor drei Jahren, als sich die Menschen mit dem Gemüseverkäufer Mohammed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid solidarisierten, der sich aus Verzweiflung über seine Ohnmacht gegen die Übergriffe der Polizei selbst verbrannte. Letztes Jahr hat sich ein Selbstmordattentäter an einem beliebten Badeort in die Luft gesprengt. Im Parlament in Tunis hat die islamistische Ennahda Partei das Sagen.
Aber ungeachtet aller Turbulenzen passiert in dem nordafrikanischen Land ein kleines demokratisches Wunder. Die Islamisten, die großen Sieger der Wahlen von 2011, akzeptieren, dass sie nicht frontal gegen den laizistischen Teil der Gesellschaft regieren können. Regierungschef Ali Larayedh hält sich an einen Deal mit den Gewerkschaften und macht einem Expertenkabinett Platz. Die konstituierende Versammlung in Tunis schreibt Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit in die Verfassung. Die Islamisten verzichten auf die Scharia als Grundlage des Staates. Mit knapper Mehrheit geht sogar ein Paragraf zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen durch. Die tunesische Verfassung könnte zur progressivsten der gesamten arabischen Welt werden.
Dabei stand Tunesien im vergangenen Sommer vor dem Abgrund. Die Mordanschläge gegen zwei populäre Vertreter aus dem säkularen Lager drohten zu einem Aufstand zu führen. Die Fronten schienen fast so unversöhnlich, wie in Ägypten unter dem verborten islamistischen Präsidenten Mohammed Morsi. Aber nicht die Armee spielte den Schiedsrichter, wie am Nil, sondern der mächtige Gewerkschaftsbund UGTT. Die islamistische Ennahda –Partei erwies sich als flexibler als die ägyptischen Moslembrüder. Der verheerende Zusammenstoß zwischen Armee und demokratisch gewählter islamistischer Regierung, der zur Machtergreifung durch das ägyptische Militär geführt hat, bleibt Tunesien erspart. Der Kompromiss zwischen Islamisten und säkularen Kräften hat in Tunis eine Atempause geschaffen, die von der politischen Klasse zur Verfassungsgebung genützt wird.
Noch ist das Land von einer politischen Stabilisierung weit entfernt. Soziale Explosionen können rasch außer Kontrolle geraten. Aber geprägt durch die laizistische Tradition von Staatsgründer Bourgiba gehört Tunesien zu den wenigen Lichtblicken einer sich verdüsternden Situation in der Region.
In Ägypten geht das Militär immer brutaler gegen die islamistische Hälfte der Gesellschaft vor. Die Moslembrüder, die bei den einzigen freien Wahlen erfolgreichen waren, werden als Terrororganisation gebrandmarkt. Kein Wunder, dass die Zahl jener, die daran denken tatsächlich zu den Waffen zu greifen, wächst. Die Gefahr steigt, dass der durch den arabischen Frühling in den Hintergrund gedrängte islamistische Terrorismus durch das Vorgehen der Militärs eine neue Massenbasis erhält.
Noch viel gefährlicher ist die Situation im arabischen Osten. Vom Libanon über Syrien bis in den Irak weicht die Aufbruchsstimmung von 2011 der Dynamik eines Religionskrieges zwischen Sunniten und Schiiten. In der syrischen Opposition tobt ein Bürgerkrieg im Bürgerkrieg zwischen verschiedenen sunnitischen Extremisten, die sich auf Al Kaida berufen und das Regime in Damaskus vor allem deshalb bekriegen, weil sie den Alawiten Assad als Häretiker ansehen. Die prowestliche Freie Syrische Armee, für die Frankreich und Großbritannien im Sommer fast in den Krieg gezogen wären, spielt kaum mehr eine Rolle. Wer die Opposition bei der geplanten Syrienkonferenz in Genf vertreten wird, ist unklar. Kampferprobte Dschihadisten aus Syrien destabilisieren den Irak und bringen die schiitische Regierung in Bagdad in Bedrängnis.
Dazu kommt die verwirrende Konkurrenz der rivalisierenden Regionalmächte. Saudi-Arabien baut mit seinen schier unerschöpflichen Finanzmitteln in Syrien islamistische Extremistenorganisationen als Konkurrenz zu der Al-Kaida nahestehenden Al Nusra-Front und den grenzüberschreitend tätigen Kämpfern einer Organisation namens ISIS, Islamischer Staat im Irak und Großsyrien. Der Iran wiederum finanziert libanesische Hisbollah-Krieger, die in Syrien an der Seite Assads Krieg führen, auch gegen die Reste der prowestlichen Opposition. Dagegen steht Teheran im Irak auf der gleichen Seite wie die USA: sowohl die USA als auch der Iran unterstützen die Regierung in Bagdad gegen die sunnitischen Al Kaida-Extremisten mit Waffenlieferungen.
Je mehr sich die USA aus der Region zurückziehen, desto schärfer wird im Nahen Osten der Kampf um Einfluss zwischen den Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien. Drei Jahre nach dem Sturz der Diktaturen entwickelt sich die arabische Welt immer weiter auseinanderentwickelt.