Die Zerfallsbewegung, die Europa bedroht, hat ihren Zenit überschritten. Klar: sollte in Frankreich Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen gewinnen, wird die nationalistische Welle wieder ansteigen. Aber der Trend zeigt in eine andere Richtung. Seit der britischen Brexit-Entscheidung geht die Anti-EU-Stimmung zurück. In allen Umfragen sprechen sich die Franzosen mehrheitlich gegen Le Pen im Elysee aus. Die EU-Feindin bringt sich durch ihre nationalrevolutionäre Rhetorik möglicherweise um einen Erfolg, den sie angesichts des Zerfalls der etablierten Parteien schon in der Tasche zu haben glaubt.
Die 60-Jahrfeier der Römischen Verträge konnte keine Jubelveranstaltung sein. Es gibt zu viele unbewältigte Probleme. Aber die Regierungen wirken nicht mehr so hilflos wie im letzten Jahr. Jean-Claude Juncker hat fünf Optionen für die Zukunft Europas präsentiert, die von einer Rückentwicklung zu einem reinen Binnenmarkt bis zu den Vereinigten Staaten von Europa reichen. Mit seinem knappen Papier macht er den Mitgliedsstaaten klar, dass jede Einzelentscheidung eine Weichenstellung ist.
Beim römischen Gipfel haben die EU-Staaten minus Großbritannien eine Art Option 1 plus nach Junckers Skala eingeschlagen. Festhalten am Erreichten, angereichert durch die Aussicht auf engere Zusammenarbeit in ausgewählten Bereichen. Die Erinnerung an die Nachkriegszeit macht Evolution statt Revolution in der Europapolitik attraktiver. Weiterwursteln, um das Wahljahr 2017 zu überstehen, erscheint nicht mehr ganz so schlimm.
Großbritannien zeigt mit dem wachsenden Chaos um Brexit das Risiko von Alleingängen. Die Banken, auf die London so stolz ist, ziehen Personal in Richtung Euroland ab. Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum bedroht den Zusammenhalt des Vereinigten Königreiches. Sicherheit für die Bürger bringt das keine.
Die französische Publizistin Natalie Nougayrede erinnert, wie stark die Unterzeichner der Römischen Verträge ihre nationalen Interessen im Blick hatten. Frankreich wollte Zugang zu Rohstoffen, Deutschland war auf der Suche nach internationaler Anerkennung, Belgien und die Niederlande schielten auf das Wirtschaftswunder. 60 Jahre später steigt weltweit die Unsicherheit. Die Schutzmacht Amerika ist unberechenbar geworden. Dass ein System, in dem die Trump‘schen Devise des nationalstaatlichen Vorrangs herrscht, die Destabilisierung nicht stoppen wird, dämmert auch EU-Kritikern.
Die Nationalstaaten werden auf absehbare Zeit die Zugspferde in Europa bleiben. Für Föderalisten ist das eine enttäuschende Erkenntnis. Aber auch bei den Römischen Verträgen waren die Gründungsstaaten die Subjekte, nicht die Völker. Die in Junckers Katalog verzeichnete Option 3 der flexiblen Zusammenarbeit lässt die Mitglieder entscheiden, ob sie bei neuen Aktionen mitmachen oder aus bestehenden Projekten aussteigen. Der Londoner Economist, proeuropäisch aber britisch, kann sich sogar den Brexit als Beitrag zur Flexibilisierung vorstellen. Gelingt es Rachegefühle beiseite zu schieben, wäre eine lose Verbindung Großbritanniens mit der EU ein dauerhaftes Modell auch für andere Staaten. Die Türkei, Norwegen oder die Ukraine könnten interessiert sein.
Die Lebensfähigkeit des Vereinten Europas hängt von einem Deal zwischen Deutschland und Frankreich ab. Um Deutschland sammeln sich die Nordstaaten, hinter Frankreich steht der Süden. In beiden Staaten ist die französisch-deutsche Achse Wahlkampfthema. Politiker muten der eigenen Basis dabei auch unangenehme Wahrheiten zu. Emmanuel Macron, dem Shooting Star der linken Mitte, hat es nicht geschadet, dass er die 3-Prozentgrenze beim Budgetdefizit unterstützt. SPD-Mann Sigmar Gabriel sagt, Deutschland wird in Zukunft mehr Geld in den EU-Topf stecken müssen. Dem sozialdemokratischen Höhenflug tut das keinen Abbruch.
Die Flexibilisierung der EU wird durch einen stärkeren Zusammenhalt der 19 Eurostaaten auszugleichen sein. Von der Umwandlung des Euro-Rettungsfonds in einen Europäischen Währungsfonds bis zu einem Eurobudget gehen die Überlegungen. Wirtschaftspolitischer Neoliberalismus ist passee. Der Europäische Sozialfonds wird keine Randerscheinung bleiben können. Sollten Ende des Jahres proeuropäische Regierungen in Paris und Berlin an der Macht sein, stehen diese Wege offen. Europäische Unfälle können jederzeit passieren. Aber die Wirtschaft zieht an, was eine Vorwärtsstrategie erleichtert.
Innovation kommt weltweit aus Amerika, trotz der reaktionären Wende unter Trump. Wirtschaftliche Dynamik führt Asien vor, obwohl der Kontinent autoritär regiert wird. Die globalisierte Welt könnte ein demokratisches Europa, das eine nationalistische Zerreißprobe übersteht, ganz gut brauchen.