Die Tragödie Afghanistans und wir

 Vor drei Jahren überließen die USA den Taliban das von Kriegen und Bürgerkriegen zerstörte Land am Hindukusch. Die chaotischen Szenen am Flughafen von Kabul beim Abzug der amerikanischen Soldaten im August 2021 erinnerten an Saigon 1975, als der Vietnamkrieg zu Ende ging. Unter der Führungsclique um Mullah Abdul Ghani Baradar praktizieren die religiösen Ultras in Afghanistan seither eine Apartheid der Geschlechter gegen Frauen und Mädchen. Etwas ähnliches hat es in der jüngeren Geschichte in keinem Land der Welt gegeben. Ihre düstere Herrschaft ist das Resultat der Korruption der lokalen Stammeseliten und vieler Fehler des Westens. 

 Nach den Terroranschlägen des 11.September hatten die Taliban zu den Todfeinden Amerikas gehört. Sie wurden unter dem Einsatz riesiger finanzieller Mittel und eines gigantischen Militärapparats bekämpft. Trotzdem spielt der Verlust Afghanistans in den USA heute keine Rolle mehr. Die einstige Hochburg der Dschihadisten ist bedeutungslos geworden. Wie rasch Amerika Rückschläge und Niederlagen verdrängt, sollte ein Warnsignal für die Ukrainer und andere Verbündete sein. 

 Die Bürger Afghanistans und vor allem die Frauen, die noch vor wenigen Jahren Ärztinnen, Journalistinnen und sogar Abgeordnete waren, zahlen einen schrecklichen Preis. Nach den jüngsten Vorschriften dürfen Frauen in der Öffentlichkeit nicht mehr singen und laut sprechen. Sie sind zur Vollkörperverschleierung gezwungen. Zur Begleitung durch männliche Familienangehörige waren sie schon bisher verpflichtet. Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen prangert eine Praxis an, die Frauen aus der Öffentlichkeit zum Verschwinden bringen soll. Es ist ein absurdes Regime, das auf den reaktionärsten Stammestraditionen des Mehrheitsvolks der Paschtunen und religiösem Fanatismus beruht. Die Erwartung in Washington DC, dass die Taliban nicht mehr so radikal sind wie früher, waren falsch.

 Internationale Hilfsorganisationen berichten von Unterernährung und Hunger. Währungsreserven der früheren Regierung sind blockiert.   

 Seit dem Beginn des Kampfes der islamistischen Mudschahidin gegen die linke Demokratische Volkspartei 1979 herrscht  in Afghanistan Krieg. Die kommunistische Regierung wurde von der Sowjetunion unterstützt, die Islamisten bekamen Waffen aus den USA.  Nach Jahrzehnten der Gewalt leben Millionen Afghanen als Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und in Europa. Viele haben ihr gesamtes Leben in Lagern verbracht. Sie haben nie in Afghanistan gelebt, wohin sie auf Grund ihrer Nationalität bei schweren Straftaten jetzt abgeschoben werden sollen. Viele haben keine Verbindung zum Herkunftsland ihrer Familien.

  Seit die Taliban an der Macht sind hat sich die Sicherheitssituation verbessert, trotz der Attentate eines mit den Taliban verfeindeten IS-Ablegers. Ahmad Massud, ein Sohn des 2001 ermordeten tadschikischen Nationalhelden Ahmed Schah Massud, führt im unzugänglichen Pandschirtal mit einigen Getreuen einen Guerillakampf gegen die islamistischen Herrscher. Aber es fehlen Waffen und westliche Unterstützung. 

   Die Kapitulation vor den afghanischen Fundamentalisten nach zwei Jahrzehnten begann mit Verhandlungen unter Donald Trump und endete mit dem Debakel des Rückzuges unter Joe Biden. Alternativen, wie eine Teilung des Landes und die längerfristige Verteidigung des Raumes um Kabul wurden nie ernsthaft verfolgt.

  Der amerikanische Kongress ließ untersuchen, welche Fehler für das Scheitern entscheidend waren.  Zu den Gründen der Niederlage zählt die Zusammenarbeit mit korrupten Stammeskriegern und die Rolle abgehobener Militärberater beim Aufbau afghanischer Streitkräfte. Amerikanische Abläufe und US-Gerät waren häufig ungeeignet. Die Kosten stiegen ins Unermessliche. Die Erfolge blieben aus. In Washington wurden Rufe nach einem Ende immer lauter.

  Es sind Mechanismen, die Verbündete der Supermacht immer wieder erleben, wenn das Kriegsglück ausbleibt. Gegen einen ähnlichen Backlash müssen sich heute die Ukrainer wappnen, deren Verteidigung von amerikanischer Militärhilfe abhängt.

  Unter dem letzten König Mohammed Zahir Schah in den 1960er-Jahren fuhren Hippies aus dem Westen nach Afghanistan um eine Gesellschaft der exotischen Rückständigkeit zu erleben. Die notwendige Modernisierung scheiterte an archaischen Strukturen und den Einflüssen von außen. Der Niedergang Afghanistans zum islamistischen Horrorstaat von heute gehört zu den dramatischen Fehlentwicklungen unserer Zeit. Deutschland reagiert auf Kriminalität im eigenen Land mit Abschiebungen zu den Taliban, weil die Straftäter Flüchtlinge sind. Die Idee, dass Menschenrechte Vorrang haben müssen, bleibt auf der Strecke.

ZUSATZINFOS

Afghanische Flüchtlingszahlen

Von den 41 Millionen Afghanen leben 5,6 Millionen als  Flüchtlinge  im Ausland. 1,6 Millionen sind seit 2021 geflohen. Umgekehrt hat Pakistan 690 000 Menschen zur Rückkehr gezwungen. Die UNO zählt 3,2 Mio Vertriebene im eigenen Land.