In Umbruchsituationen sind Symbole wichtiger als sonst. Einen Monat nach dem fatalen 15.Juli, als türkische Militärs das Parlament bombardierten und auf Jagd nach dem gewählten Präsidenten gingen, hat Europa noch immer nicht realisiert, was passiert ist. Man reibt sich die Augen. Der erste Präsident, der Recep Erdogan nach der erfolgreichen Abwehr des Putsches einlädt, ist Russlands Autokrat Putin. Kein demokratischer Regierungschef fand den Weg nach Ankara, um sich mit dem Volk gegen die Putschisten zu solidarisieren. Über die Flüchtlingspolitik haben europäische Politiker mit höchsten türkischen Vertretern direkt verhandelt. Als die Türkei Europas Solidarität gegen die Putschisten braucht, kam eisiges Schweigen. Das Misstrauen gegen den islamistischen Populisten Erdogan hat elementare demokratische Reflexe außer Kraft gesetzt.
Das siegreiche Regierungslager wirft dem Westen klammheimliche Freude über den Aufstandsversuch gegen den bombastischen Erdogan vor. Dass Europäer und Amerikaner in der entscheidenden Nacht abwarten wollten wer sich durchsetzt, ist schwer zu bestreiten.
Einen militärischen Umsturzversuch mit 240 Toten hat es in keinem EU-Beitrittsland je gegeben. Die letzte vergleichbare Erfahrung machte Griechenland 1967. Tausende wurden verhaften. Das Militär blieb sieben düstere Jahre an der Macht.
Der ehemalige schwedische Außenminister Carl Bildt argumentiert, dass es bei einem Sieg der Putschisten in der Türkei viel verheerendere Konsequenzen gegeben hätte. Massives Blutvergießen in Istanbul und Ankara bei der Niederschlagung oppositioneller Demonstrationen wäre die Folge gewesen. Wahrscheinlich hätte es einen Bürgerkrieg gegeben. Die Europäer wären mit einer neuen Massenflucht konfrontiert gewesen. Europa sind solche Katastrophen erspart geblieben, weil die Türken zu tausenden auf die Straße gingen, um sich den Militärs mit bloßen Händen entgegen zu stellen.
Im Siegesrausch setzt Recep Erdogan seine eigenen grenzenlosen Machtgelüste um. Die Säuberungswelle geht weit über den Kreis der Putsch-Sympathisanten hinaus. Aber dass eine Regierung, die nur knapp einem Umsturz entgangen ist, einen Staat-im-Staat nicht mehr akzeptieren will, wie ihn die Gülen-Bewegung darstellt, ist logisch. Die europäischen Warnungen vor diktatorischen Tendenzen sind berechtigt. Sie wären glaubwürdiger, wenn die Verurteilung des Putsches deutlicher ausgefallen wäre.
Die Demokratie in der Türkei hängt mit der langjährigen Orientierung Ankaras auf Europa zusammen. Trotz des aktuellen Backclashs ist es wahrscheinlich, dass Ankara an diesem Kurs festhält. Die geopolitischen Alternativen zur Westorientierung sind begrenzt. Das autoritäre Russland und das Iranische Mullahregime werden auf die Dauer keine attraktive Alternative zu EU und NATO sein. Erdogan liebt pragmatische Schwenks, das hat er durch sein Treffen mit Putin bewiesen. Einen neuerlichen Kurswechsel, diesmal in Richtung Westen, wird er sich offen lassen.
Nur der Abbruch der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union würde diese Türe unwiderruflich schließen. Ein Beitritt wird lange nicht aktuell sein. Aber regelmäßige Kontakte nach Brüssel waren die politische Lebensader, die dem Land geholfen hat, sich von den diktatorischen Nachbarstaaten abzusetzen. Wenn die Europäer diese Verbindung mutwillig kappen, wie das die österreichischen Regierungsparteien verlangen, würden sie die Demokraten in der Türkei schmählich im Stich lassen. Dementsprechend sprechen sich auch die Kurdenorganisationen in Österreich gegen einen totalen Bruch aus, trotz aller Kritik an Erdogan.
Der Europaabgeordnete Othmar Karas weist darauf hin, dass die EU die Beitrittskapitel 23 und 24 eröffnen könnte, bei denen es um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Pressefreiheit geht. Für die umkämpften türkischen Demokraten wäre das eine willkommene Schützenhilfe.
Erdogan ist ein Politiker, der in Extremsituationen aufblüht. Es kann sein, dass er versuchen wird die Wiedereinführung der Todesstrafe durchzupeitschen. Das wäre ein Zeichen der endgültigen Abkehr von Europa. Es ist zweifelhaft, ob es für diesen einschneidenden Schritt im Parlament eine Mehrheit gibt. Aber die türkische Demokratie durch eine Absage der Beitrittsverhandlungen kampflos aufzugeben, noch dazu nach dem heroischen 15.Juli, wäre fatal. Die Europäer sollten sich für ihr Blackout entschuldigen und den Faden des kritischen Dialogs mit Ankara wieder aufnehmen.