Wie kann die Kaste der Kommunistischen Partei ihre Macht behalten, wenn der boomende Staatskapitalismus an seine Grenzen stößt und die alte Ideologie mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat? Die Frage überschattet alle Entscheidungen in China, auch wenn sich die hunderten Millionen junger Menschen in den Shopping Malls, den sozialen Netzwerken oder auf den Bahnhöfen der Städte nie damit beschäftigt haben.
Kaum wo sonst ist der Raubtierkapitalismus so ausgeprägt wie in der Volksrepublik China. Aber Präsident Xi Jinping führt das Land mit roten Fahnen und dem kommunistischen Symbol von Hammer und Sichel. Der Widerspruch wurde übertüncht, weil der rasante wirtschaftliche Aufstieg hunderten Millionen in kürzerer Zeit ein besseres Leben bescherte, als je zuvor in der Geschichte. Jetzt kommt der Klassenkampf, weil das Tempo der Entwicklung viele ehemalige Wanderarbeiter abhängt. Mit der Vielzahl lautstark vertretener Interessen tun sich die Regierenden schwer.
Als Neuankömmling unter Pekings Korrespondenten erinnert mich manches an meinen ersten Auslandsjob für den ORF in Moskau vor 25 Jahren. Der Ausländerblock, in dem internationale Medien ihre Büros haben, muss nach einer sowjetischen Vorlage gebaut worden sein. Alle Journalisten sind überzeugt, dass sie überwacht werden.
Die Maske aus der kommunistischen Herkunft ist intakt. Die KPChinas sucht die Flucht nach vorne. Parteichef Xi Jinping führt seinen internen Fraktionskampf gegen feindliche Seilschaften unter dem populären Vorzeichen einer Antikorruptionskampagne. Gleichzeitig wendet sich China nach außen. Als aufsteigende Macht des 21. Jahrhunderts soll China die Handelswege der ganzen Welt erschließen. Wir würden in Mitteleuropa gerne Bullit Trains mit einer Geschwindigkeit von über 300 Stundenkilometern bauen, erzählt man uns im Think Tank des chinesischen Außenministeriums. Da seid ihr doch im Rückstand. Der zweite Panamakanal durch Nikaragua soll durch ein staatsnahes chinesisches Konglomerat errichtet werden.
China ist wie ein Hochgeschwindigkeitszug für den ganzen Planeten, sagt ein italienischer Kollege. Europa wirkt dagegen so, als ob es gerade überfahren würde.
Der Verband der Auslandskorrespondenten in Peking organisiert nach den Pariser Mordanschlägen im Book Worm, einer beliebten Buchhandlung mit Bar, ein Solidaritätsevent. Wir halten Transparente mit der Aufschrift „Je suis Charlie“, auf Französisch und Chinesisch, hoch. Die Fotos werden über das Internet verbreitet. Das Gedränge ist riesig. Auch deshalb, weil diesmal so viele Staatssicherheitsleute in zivil dabei sind, sagen die Kollegen.
In den offiziellen chinesischen Medien ist der Terrorismus in Europa ein Thema unter vielen aus der gefährlichen, weiten Welt. Der Westen wird jetzt wohl mehr Verständnis für die Repression gegen die islamistischen Separatisten in Xinjiang haben, der von Uiguren bewohnten Provinz im Westen, lautet der Unterton.
In China gibt es nicht den Hauch von Pressefreiheit, aber trotzdem eine lebendige Medienlandschaft. Vor allem im Internet. Die Zensoren haben trotzdem auch in den sozialen Netzwerken das letzte Wort. Hunderttausende Internetpolizisten löschen Beiträge oder schalten sich mit Postings selbst ein. Unliebsame internationale Websites, wie jene der New York Times, von Google, Facebook oder Twitter, hält die digitale Firewall fern. Nur wenige tun sich die Mühe an, die Sperren zu umgehen. Neun von zehn Internetbenützern bleiben in dem von der Staatssicherheit kontrollierten Raum. Trotzdem sind die Kommunikationsmöglichkeiten riesig. Ein Streik der Taxifahrer in der Metropole Nanjing konnte sich zu Jahresbeginn in Blitzeseile auf ein halbes Dutzend Städte ausweiten, weil im Internet darüber berichtet wurde.
Die plötzliche Verhaftung von Aktivisten und Journalisten, manchmal mit katastrophalen Folgen für die Betroffenen, ist Teil des Systems. Seit drei Monaten ist die Zeit-Mitarbeiterin Zhang Miao, die aus ihren Sympathien für die Hongkonger Demokratiebewegung kein Hehl gemacht hat, inhaftiert. Angela Köckritz, die Korrespondentin des Hamburger Blattes, musste China überstürzt verlassen, weil sie fürchtete als Spionin festgenommen zu werden.
Michail Gorbatschow wusste vor einem Vierteljahrhundert, dass Modernisierung in einem bürokratischen System unmöglich ist, wenn die Partei keinen öffentlichen Dissens zulässt. In China, mit seinen 1,3 Milliarden Bürgern – die EU samt Ukraine und Türkei wäre nur halb so groß –, drohen noch viel größere Zerreißproben. Die Vielfalt der Gesellschaft kommt immer stärker in Widerspruch zum traditionellen maoistischen Herrschaftsmodell einer einzigen Partei, die von sich sagt, dass sie dem Volke dient, aber verhindern will, dass man ihr widerspricht.