Vergangene Woche ist im Ärmelkanal vor Calais ein aufblasbares Flüchtlingsboot untergegangen. Mindestens 27 Migranten, zumeist irakische Kurden, sind ertrunken, darunter mehrere Frauen und drei Kinder. Tragödien von Boat People, die nach Europa wollen, sind im Mittelmeer düsterer Alltag. Jetzt wissen wir: Eine Seeroute verläuft auch von Frankreich nach Großbritannien. Jeden Tag versuchen Hunderte Migranten und Flüchtlinge die gefährliche Überfahrt zur englischen Küste.Der französische „Dschungel“ bei Calais, einem Slum, von dem aus Flüchtlinge versuchen, versteckt auf Lkws den Kanaltunnel zu durchqueren, ist seit Langem bekannt. Stacheldraht, Zäune, Nachtsichtgeräte und Sensoren, mit denen Menschen entdeckt werden können, haben den Kanaltunnel für Migranten weitgehend gesperrt. Die Folge war, dass sich die Route zur illegalen Einreise auf das Meer verlegt hat. 27.000 Menschen sind seit Anfang des Jahres auf Gummibooten nach Großbritannien zu kommen. Für die britische Öffentlichkeit eine schockierend hohe Zahl.Frankreich lässt sich die Küstenwache vom britischen Steuerzahler kofinanzieren, will aber keine Polizisten aus dem Vereinigten Königreich ins Land lassen. Das britische Boulevardblatt Sun bringt Fotos von überfüllten Schlauchbooten, die unbehelligt von französischen Gendarmen in See stechen. Premierminister Boris Johnson beschuldigt Paris, die Küste zu wenig zu kontrollieren und will Flüchtlinge nach Frankreich zurückschicken. Die Polemik zwischen London und Paris klingt ähnlich wie der Streit zwischen der EU und der Türkei, wenn die griechische Außengrenze überwunden wird. Der große Unterschied: Beim Ärmelkanal geht es nicht um eine Fluchtroute in die Europäische Union, sondern umgekehrt aus der EU in einen Drittstaat, eben Großbritannien.Im britischen Oberhaus hat der ehemalige schottische Richter John Kerr die Behauptungen der Regierung mit Zahlen und Fakten widerlegt. Flüchtlinge nehmen den gefährlichen Weg über das Meer, weil Großbritannien fast alle regulären Fluchtwege geschlossen hat, sagt Lord Kerr. Es ist wert, sich seine Wortmeldung anzuhören. Viele der Migranten wollen nach Großbritannien, weil sie dort Verwandte haben oder bessere Jobchancen sehen. Unter Migrationsexperten ist von „mixed flows“ die Rede, die sowohl Asylberechtigte als auch Zuwanderer umfasst, ähnlich wie zwischen Mexiko und den USA.Die Flüchtlingstragödie vor Calais führt zur Frage, ob ein Staat, der keine Migranten mehr akzeptieren will, eigentlich demokratiepolitisch im Recht ist, Einwanderung zu blockieren, auch wenn damit eine Verletzung der Menschenrechte verbunden ist? Können Staaten ausschließlich nach der Stimmung ihrer eigenen Bürger vorgehen? Der Migrationsexperte Rainer Bauböck sagt „Nein“. Er hat eine eigene Studie unter dem Titel „The Democratic Case for Immigration“ verfasst. Liberale Demokratien sind gegenüber Geflüchteten den Menschenrechten verpflichtet. Weil geregelte Arbeitsmigration nach Europa für Zielländer, Herkunftsländer und Migranten selbst Vorteile bringt, müssten auch Arbeitsmigranten Chancen geboten werden. „Je weniger legale Kanäle es gibt, desto größer wird der Druck auf das Asylsystem und es entstehen immer mehr illegale Routen“, argumentiert Bauböck. Migration hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben und wird es immer geben, die Frage ist, wie sie menschenwürdig reguliert wird, meint |