Thomas Mayer bringt die wichtigste Erkenntnis für einen EU-Korrespondenten auf den Begriff: wenn wir über Europa berichten, berichten wir in Wirklichkeit über uns selbst. Ein Auslandskorrespondent in Moskau, Peking oder Washington erzählt dem Publikum aus einem fernen Land. Brüssel ist dagegen derart stark mit der Innenverfassung jedes Mitgliedslandes verbunden, dass die scheinbare Außensicht zur wahren Innensicht wird.
„Frei in Europa“, das neue Buch des langjährigen Brüssel-Korrespondenten des „Standard“ , geht von der Prämisse aus, dass die Westanbindung Österreichs durch den österreichischen EU-Beitritt 1995 die einzige wirklich freie Entscheidung über die geopolitische Stellung der Republik im vergangenen Jahrhundert darstellt. 1918 war Deutschösterreich von den Siegern des 1.Weltkrieges zur Unabhängigkeit von Deutschland gedrängt worden. 1955 wurde die Neutralität der Preis für den Staatsvertrag. Nur beim EU-Referendum 1994 haben Eliten und Bürger eine Neupositionierung aus freien Stücken beschlossen.
Thomas Mayer war als Reporter bei den Umbrüchen der demokratischen Revolutionen des Jahres 1989 hautnah dabei. Er zeichnet unter dem Blickwinkel Europa ein faszinierendes Bild der mühsamen und manchmal turbulenten Anpassung Österreichs an die neuen Realitäten der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Wer erinnert sich noch daran, dass die FPÖ lange für den Beitritt Österreichs zu EU und NATO war, bevor Jörg Haider rein um des politischen Effekts willen auf die gegenteilige Linie umschwenkte, weil er sich davon mehr Stimmen versprach? Franz Vranitzky hatte dem Demagogen an der Spitze der FPÖ das von ihm gewünschte Außenministerium verweigert und die Kleine Koalition aufgekündigt. Beim EU-Referendum zogen die Grünen alle Register für ein „Nein“, um schließlich zu den engagiertesten Anhängern der europäischen Integration zu mutieren. Dafür lesen sich die Editorials von Hans Dichand in der Kronen-Zeitung, die damals für das „Ja“ plädierte, wie ein Text aus einer Werbebroschüre der EU-Kommission.
So heftig waren die Widerstände diverser einheimischer Lobbys, von den Frächtern bis Landwirten, dass selbst während der letzten Verhandlungsrunde vor dem Beitritt in Brüssel der Erfolg nicht garantiert war. Verzweifelt wollte Alois Mock eines Abends sogar abreisen.
Der EU-Beitritt fällt in eine Phase der Verarbeitung dramatischer Umbrüche für den ganzen Kontinent. Österreich hatte seine gewohnte Identität als Insel der Seligen zwischen den Blocken verloren.
Wenn man diese Jahre im Bericht von Thomas Mayer Revue passieren lässt, verdient die politische Führung um Franz Vranitzky, Erhard Busek und Alois Mock Respekt. Unbeirrt von alle populistischen Querschüssen und Lobbyattacken hielt die Regierungsspitze an dem einmal festgesetzten Ziel fest. Das Ergebnis des EU-Referendums zeigte, dass eine Große Koalition, die ein ernsthaftes Ziel verfolgt, auch bei den Bürgern ankommt.
Jörg Haider kommt im Bericht Mayers als der böse Geist des Landes vor, der es virtuos schaffte mit den dunklen Seiten der österreichischen Volksseele zu spielen. Den EU-Beitritt Österreichs konnte er nicht verhindern, danach trieb er das Land vor sich her.
Wolfgang Schüssel kommt im Bericht des Standard-Korrespondenten schlecht weg. Die berühmte Amsterdamer Frühstücksaffäre, bei der der damalige Außenminister mehrmals seine Verbalinjurien gegen den deutschen Bundesbankspräsidenten Hans Tietmayer bestritt, nimmt breiten Raum ein. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie selbstbewusste österreichische Chefredakteur dem Vizekanzler die Unwahrheit einfach durchgehen ließen.
Schwarzblau und die EU ist – leider könnte man sagen – nicht mehr Gegenstand des detaillierten Mayer‘schen Berichts. Schüssel hat damals als Wahlverlierer den Sprung ins Kanzleramt dank seines Deals mit Haider geschafft. Seine Rechtfertigung angesichts der Proteste in den Straßen von Wien und einer heftigen aber letztlich hilflosen Sanktions-Reaktion aus den EU-Staaten, erklärte der Kanzler einem französischen Journalisten damals so: Er, Schüssel, sei dabei mit der FPÖ so umzugehen, wie Francois Mitterand einst in der Koalition mit den französischen Kommunisten. Die tödliche Umarmung sei die richtige Taktik.
Die Rechnung mit Haider ging nicht wirklich auf. Aber Schüssel hat trotz der massiven Belastung der sogenannten Sanktionen nie mit der EU inhaltlich gebrochen, wie das etwa heute in Ungarn Viktor Orban tut. Haiders antieuropäische Ausritte, vom Widerstand gegen die Aufnahme Tschechiens bis zu der Ablehnung von Schengen, hat der damalige Kanzler kunstvoll entschärft. Insofern kann auch der Umgang von Schwarzblau mit der EU, als Beweis genommen werden, wie nachhaltig die österreichische Umorientierung auf Brüssel gewesen ist. Dass Österreich zu den EU-kritischen Ländern gehört, stimmt: aber es gibt nicht mehr explizite Austrittsbefürworter als Neinstimmen beim EU-Referendum. 1994 waren in Österreich immerhin 33 Prozent gegen den EU-Beitritt.
Gut recherchierte Bücher zur unmittelbaren österreichischen Zeitgeschichte sind dünn gesät. Thomas Mayers Bericht ist spannend geschrieben und exzellent recherchiert. Gleichzeitig schafft der Rückblick etwas beruhigende Distanz zu den EU-Querelen der aktuellen Tagespolitik. Schade, dass der Verlag weder in eine Zeittafel noch in ein Register investieren wollte. Einen Bericht über Österreichs Umgang mit seiner neuen Rolle als EU-Mitglied nach 1995 dürfen sich Leserinnen und Leser wünschen.
Thomas Mayer, Frei in Europa. Österreich rückt ins Zentrum eines turbulenten Kontinents, Styria 2014