Dissidentenschicksale Assange und Nawalny

 

Sind die Gerichtsverfahren, mit denen die britische Justiz  den Gründer der Aufdeckungsplatzform Wikileaks Julian Assange überzieht mit der Tragödie von Alexej Nawalny zu vergleichen? Fünf Jahre ist der australische Journalist im Londoner Gefängnis Belmarsh inhaftiert. Es geht ihm physisch und psychisch so schlecht, dass er an der Verhandlung vor dem High Court in London letzte Woche  nicht teilnehmen konnte.  Der russische Dissident Alexej Nawalny ist im sibirischen Lager gestorben, mutmaßlich wegen folterähnlicher Behandlung.

   Der Westen macht das mörderische Regime Vladimir Putins für den Tod Nawalnys verantwortlich. Im Umgang mit Assange sieht man dagegen schlicht das Wirken des Rechtsstaates.  Diese Interpretation ist zu hinterfragen.

 Klar, vor dem Gebäude des ehrwürdigen High Courts wurde mit „Free Assange“ Plakaten demonstriert. Die Anwälte konnten ausführen, warum ihr Mandant gegen die Überstellung in die USA zu berufen muss.  Die Vertreterin der US-Regierung hielt dagegen. Die Richter lassen sich Zeit, um zu einer sauberen Entscheidung zu kommen. 

 Obwohl der Rechtsstaat gewahrt wird, gibt es beunruhigende Parallelen zu autoritären Systemen.

 Assange hat mit Wikileaks vor 15 Jahren Kriegsverbrechen und andere Verfehlungen der USA im sogenannten Krieg gegen den Terror veröffentlicht. Am bekanntesten wurde ein Video mit dem Namen Collateral Murder, auf dem zu sehen ist wie eine Apache-Hubschraubermannschaft ein Dutzend Passanten auf offener Straße in Bagdad abknallt. Angeblich hielten die Soldaten die TV-Kameras für Waffen. Vor Gericht kam keiner der Beteiligten.

  700 000 Dokumente für Wikileaks kamen von IT-Spezialistin Chelsea Manning, die sie, angespornt von Assange, aus dem Top Secret-Bereich hervorholte. Manning wurde wegen Geheimnisverrat verurteilt und unter Barack Obama begnadigt. Gegen Assange, der die Arbeit der Wistleblowerin (sie war in ihrer Militärzeit ein Mann gewesen) an die Öffentlichkeit brachte, ist das Bedürfnis der Schlapphüte nach Rache  riesig.

 Aus Angst vor der Auslieferung an die USA hatte sich Assange in London in die Botschaft Ekuadors geflüchtet, das von einem linken Präsidenten regiert wurde. Donald Trump, damals US-Präsident, drängte die CIA zu einem Mordanschlag gegen den auf dem Botschaftsgelände lebenden Journalisten.  Die Attentatspläne gegen Assange gingen ins Leere. Der unbequeme Gast der Botschaft wurde ein Opfer des politischen Pendelschlages nach rechts in Ekuador. Den diplomatischen Schutz musst er 2019 verlassen. Von der britischen Polizei wurde er sofort verhaftet. Der formale Grund war, dass Assange Kautionsauflagen verletzt hatte. Tatsächlich geht es um viel mehr, wie die überlange Haft seither zeigt.

 Assanges Rechtsvertreter in London argumentieren, dass er Opfer eines staatlich betriebenen Verfahrens ist. Seine Verfolgung werde seit Jahren von den Geheimdiensten der USA und ihren britischen Verbündeten orchestriert. Die Kampagne macht  Assange tatsächlich zu einem politischen Gefangenen des Westens.

  Die amerikanische Anklage wegen Spionage hat laut US-Justizministerium damit zu tun, dass Wikileaks die Informationen unredigiert veröffentlicht hat. Damit seien  Informanten in Gefahr gekommen. Mit der Pressefreiheit habe die Sache nichts zu tun. Die Realität ist anders. In einer freien Gesellschaft wiegt das Recht der Öffentlichkeit schwerer, über Missetaten der Staatsorgane zu erfahren, als die Unannehmlichkeiten, die einem Spionagenetz dadurch erwachsen.

 Julian Assange ist Aktivist gegen die Mächtigen und Journalist zugleich. In diesem Punkt gleicht er den russischen Oppositionellen Nawalny und Kara-Mursa. Mit  früheren Mitarbeitern hat er sich überworfen.  Vergewaltigungsvorwürfe aus Schweden waren umstritten und sind verjährt. Dass er sich von russischen Diensten instrumentalisieren ließ, als er einst Informationen gegen Hillary Clinton veröffentlichte, ist  bedenklich. Aber auch Nawalny hatte als Aktivist gegen Putin  unangenehme Töne gegen Zuwanderer aus dem Kaukasus angeschlagen.   Politische Gefangene sind nie perfekt, auch das verbindet Assange und Nawalny. Verteidigt müssen sie trotzdem werden.

 Straflosigkeit von Geheimdiensten und Militärs gibt es überall. Beim Rachefeldzug gegen Aufdecker setzt der tiefe Staat alle erdenklichen Mittel ein. In westlichen Demokratien ist der Spielraum der Zivilgesellschaft

 sich gegen die Vertuschung von staatlicher Kriminalität   zu wehren unvergleichlich größer als in Russland, wo die Geheimdienstlobby im Kreml logiert. Die Aufdecker  Phillip Agee, der einst das Wüten des CIA in Lateinamerika publik gemacht hat, wurde über den halben Globus gejagt. Verbrechen aufzudecken wird in solchen Fällen strenger bestraft, als sie zu begehen. Eine verwerfliche Praxis.

Eine Auslieferung von Julian Assange an die USA  zu verhindern und endlich die Gefängnistore  für den australischen Journalisten zu öffnen ist in unser Aller Interesse.

ZUSATZINFORMATIONEN

Der Leidensweg des Julian Assange

Die US-Anklage wegen Spionage gegen den Aufdeckungsjournalisten war zuerst geheim. 2021 hat ein britisches Gericht die Auslieferung abgelehnt, in der Berufung hat Assange verloren. Der High Court muss über weitere Berufungsmöglichkeiten entscheiden. 175 Jahre Haft wäre die Maximalstrafe für Spionage  in den USA. US-Experten halten 63 Monate für realistischer. Die politische Stimmung spielt eine Rolle.

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