Warum sterben so viele Palästinenser in Israels Gazakrieg?

Die einseitige Nahostpolitik der Bundesregierung ist ein Fehler, der lange spürbar bleiben wird. Falter Maily 8.1.2024

Rettungseinsatz an einem zerstörten Wohnhaus in der Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens (© Abed Rahim Khatib / dpa / picturedesk.com)

Zum ersten Maily 2024 darf ich Sie ganz herzlich begrüßen. Ihnen und uns allen wünsche ich starke Nerven für ein Jahr, das wohl turbulent werden wird.about:blankANZEIGE

Aus düsterem aktuellen Anlass möchte ich ein Thema ansprechen, über das ich bereits in einem Maily vor drei Wochen geschrieben habe: Warum sterben in Gaza so viele Palästinenser unter israelischen Bomben?

Die Frage wird in Österreich nur selten gestellt. In der israelischen Tageszeitung Haaretz erzählt Korrespondentin Amira Hass von ganzen Familien, die ausgelöscht werden. Die meisten Spitäler sind zerstört. Hunger greift um sich. Unter den 22.000 Getöteten sind tausende Kinder. Es gibt um vieles mehr zivile Opfer als in anderen Kriegen. Zwischen hundert und zweihundert Tote sind es alle 24 Stunden. Seit den Weihnachtsfeiertagen ist das so. Ärzte berichten von den vielen schwer verletzten Kindern, denen Arme und Beine amputiert werden müssen. In Österreich gibt es dazu kaum Berichte.

Für die heimische Öffentlichkeit sind die Toten von Gaza eine abstrakte Statistik. Sie wird überdeckt durch den konkreten Horror der antiisraelischen Massaker des 7. Oktobers und abgeschwächt durch den Zusatz, dass die Opferzahlen von der Gesundheitsbehörde stammen, die unter Hamas-Verwaltung steht. Als ob die Verwüstungen dadurch geringer würden. Sowohl die USA als auch die UNO gehen davon aus, dass die Palästinenser die Zahl ihrer Toten richtig wiedergeben.

Der Gazakrieg wird diese Woche erstmals den Internationalen Gerichtshof in Den Haag beschäftigen. Südafrika fordert das Gericht auf, durch eine einstweilige Verfügung einen potenziellen Völkermord zu verhindern und Israel zu einem Waffenstillstand zu zwingen. Pretoria, unterstützt durch andere Staaten des globalen Südens, wirft der israelischen Regierung vor, statt eines Antiterrorkrieges gegen die Hamas die Zerstörung palästinensischer Lebensgrundlagen zu bezwecken. Die 15 Richter haben den Fall auf der Grundlage der Völkermordkonvention angenommen, die ersten Hearings sind in Den Haag am 11. und 12. Jänner geplant. Die israelische Regierung, die Kritik aus den Vereinten Nationen gerne als Antisemitismus abtut, wird sich verteidigen, sie weist die Vorwürfe zurück. Dass sich Hamas erfreut geäußert hat, könnte für Jerusalem ein Vorteil sein.

Man weiß in Jerusalem um den verheerenden Preis, sollte der jüdische Staat des Völkermordes verurteilt werden, auch wenn Staaten die UNO-Richter gerne ignorieren. Internationale Beobachter bewerten die 82-seitige Eingabe Südafrikas als seriösen Schritt im Völkerrecht, um ein Ende der Kampfhandlungen zu erreichen.

Österreichs Ablehnung eines Waffenstillstands hatte ich in einem Maily vom 18. Dezember als Fehlen elementarer Menschlichkeit bezeichnet. Es gab zahlreiche Reaktionen, sowohl zustimmend als auch ablehnend, und einen offenen Brief, der auf dem proisraelischen Blog Mena-Watch veröffentlicht wurde. Ich möchte mich für all diese Zuschriften bedanken.

Eine Frage, die kritisch eingewendet wurde, lautet: Ist für das verheerende Ausmaß der palästinensischen zivilen Opfer Israel verantwortlich, oder nicht doch die Hamas, weil Terroristen Spitäler und Wohnhäuser benützen und Zivilisten als Schutzschilder missbrauchen? Israel hat solche Fälle dokumentiert, die IDF-Armeesprecher weisen darauf hin. Der gezielte Einsatz von Zivilisten gehöre zur Kriegsführung durch Hamas und anderer bewaffneter Gruppen, so Israels Armee.

Die Unverhältnismäßigkeit des israelischen Vorgehens kann dadurch nicht gerechtfertigt werden. Untergrundorganisationen, die gegen eine militärische Übermacht aktiv sind, mischen sich regelmäßig mit der zivilen Bevölkerung, das kann man in jedem Antiterrorhandbuch lesen. Das verheerende Ausmaß der getöteten Frauen und Kinder in Gaza innerhalb weniger Monate übersteigt bei weitem die Opferbilanz anderer Kriege, wissen Militärhistoriker.

Die Neue Züricher Zeitung schreibt, es gibt so viele zivile Opfer, weil Israel schwere Freifallbomben in dicht besiedeltem Gebiet abwirft. Wohingegen israelische Militärsprecher argumentieren, man habe die Zivilisten rechtzeitig gewarnt und zur Flucht aufgefordert. Aber selbst Joe Biden, der pro-israelische US-Präsident, fordert, „indiscriminate bombing“, also wahllose Bombenangriffe, müssten aufhören.

Und das offizielle Österreich? Der außenpolitische Vordenker Wolfgang Petritsch kritisiert in der Presse und im FALTER Radio (zu hören ab Minute 18), dass sich Wien durch die blinde Apologie der Netanjahu-Regierung die Möglichkeiten verbaut, einmal wieder zur Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern beizutragen.

Die humanitäre Katastrophe nicht mehr zu ignorieren, von der die Menschen in Gaza erdrückt werden, wäre ein Schritt, um aus der Sackgasse einer einseitigen Nahostpolitik herauszufinden, meint

Ihr Raimund Löw


PODCAST-TIPP 1

Warum ist die Unterstützung für Palästinenser unter jungen Menschen tendenziell größer als unter älteren? Die New York Times hat versucht, diese Frage für das amerikanische Wahlvolk zu beantworten. Im Podcast „The Daily“ fasst der Journalist Jonathan Weisman die Sachlage ungefähr so zusammen: Es kommt darauf an, welchen Ausschnitt der Geschichte man selbst miterlebt hat.

Während Menschen im Alter von Joe Biden während des Holocaust bereits am Leben waren, mitunter selbst Überlebende kennen oder kannten, die Staatsgründung, Friedensprozesse und Angriffe auf Israel miterlebt haben, kennt die Generation Z (geboren zwischen 1995 und 2010) Israel primär als lokalen Hegemon mit militärischer Übermacht. Was das für die amerikanisch-israelischen Beziehungen und Bidens Wahlkampf bedeutet.


PODCAST-TIPP 2

Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 war von langer Hand geplant – und Israel wusste Bescheid. Zu

Aus düsterem aktuellen Anlass möchte ich ein Thema ansprechen, über das ich bereits in einem Maily vor drei Wochen geschrieben habe: Warum sterben in Gaza so viele Palästinenser unter israelischen Bomben?

Die Frage wird in Österreich nur selten gestellt. In der israelischen Tageszeitung Haaretz erzählt Korrespondentin Amira Hass von ganzen Familien, die ausgelöscht werden. Die meisten Spitäler sind zerstört. Hunger greift um sich. Unter den 22.000 Getöteten sind tausende Kinder. Es gibt um vieles mehr zivile Opfer als in anderen Kriegen. Zwischen hundert und zweihundert Tote sind es alle 24 Stunden. Seit den Weihnachtsfeiertagen ist das so. Ärzte berichten von den vielen schwer verletzten Kindern, denen Arme und Beine amputiert werden müssen. In Österreich gibt es dazu kaum Berichte.

Für die heimische Öffentlichkeit sind die Toten von Gaza eine abstrakte Statistik. Sie wird überdeckt durch den konkreten Horror der antiisraelischen Massaker des 7. Oktobers und abgeschwächt durch den Zusatz, dass die Opferzahlen von der Gesundheitsbehörde stammen, die unter Hamas-Verwaltung steht. Als ob die Verwüstungen dadurch geringer würden. Sowohl die USA als auch die UNO gehen davon aus, dass die Palästinenser die Zahl ihrer Toten richtig wiedergeben.

Der Gazakrieg wird diese Woche erstmals den Internationalen Gerichtshof in Den Haag beschäftigen. Südafrika fordert das Gericht auf, durch eine einstweilige Verfügung einen potenziellen Völkermord zu verhindern und Israel zu einem Waffenstillstand zu zwingen. Pretoria, unterstützt durch andere Staaten des globalen Südens, wirft der israelischen Regierung vor, statt eines Antiterrorkrieges gegen die Hamas die Zerstörung palästinensischer Lebensgrundlagen zu bezwecken. Die 15 Richter haben den Fall auf der Grundlage der Völkermordkonvention angenommen, die ersten Hearings sind in Den Haag am 11. und 12. Jänner geplant. Die israelische Regierung, die Kritik aus den Vereinten Nationen gerne als Antisemitismus abtut, wird sich verteidigen, sie weist die Vorwürfe zurück. Dass sich Hamas erfreut geäußert hat, könnte für Jerusalem ein Vorteil sein.

Man weiß in Jerusalem um den verheerenden Preis, sollte der jüdische Staat des Völkermordes verurteilt werden, auch wenn Staaten die UNO-Richter gerne ignorieren. Internationale Beobachter bewerten die 82-seitige Eingabe Südafrikas als seriösen Schritt im Völkerrecht, um ein Ende der Kampfhandlungen zu erreichen.

Österreichs Ablehnung eines Waffenstillstands hatte ich in einem Maily vom 18. Dezember als Fehlen elementarer Menschlichkeit bezeichnet. Es gab zahlreiche Reaktionen, sowohl zustimmend als auch ablehnend, und einen offenen Brief, der auf dem proisraelischen Blog Mena-Watch veröffentlicht wurde. Ich möchte mich für all diese Zuschriften bedanken.

Eine Frage, die kritisch eingewendet wurde, lautet: Ist für das verheerende Ausmaß der palästinensischen zivilen Opfer Israel verantwortlich, oder nicht doch die Hamas, weil Terroristen Spitäler und Wohnhäuser benützen und Zivilisten als Schutzschilder missbrauchen? Israel hat solche Fälle dokumentiert, die IDF-Armeesprecher weisen darauf hin. Der gezielte Einsatz von Zivilisten gehöre zur Kriegsführung durch Hamas und anderer bewaffneter Gruppen, so Israels Armee.

Die Unverhältnismäßigkeit des israelischen Vorgehens kann dadurch nicht gerechtfertigt werden. Untergrundorganisationen, die gegen eine militärische Übermacht aktiv sind, mischen sich regelmäßig mit der zivilen Bevölkerung, das kann man in jedem Antiterrorhandbuch lesen. Das verheerende Ausmaß der getöteten Frauen und Kinder in Gaza innerhalb weniger Monate übersteigt bei weitem die Opferbilanz anderer Kriege, wissen Militärhistoriker.

Die Neue Züricher Zeitung schreibt, es gibt so viele zivile Opfer, weil Israel schwere Freifallbomben in dicht besiedeltem Gebiet abwirft. Wohingegen israelische Militärsprecher argumentieren, man habe die Zivilisten rechtzeitig gewarnt und zur Flucht aufgefordert. Aber selbst Joe Biden, der pro-israelische US-Präsident, fordert, „indiscriminate bombing“, also wahllose Bombenangriffe, müssten aufhören.

Und das offizielle Österreich? Der außenpolitische Vordenker Wolfgang Petritsch kritisiert in der Presse und im FALTER Radio (zu hören ab Minute 18), dass sich Wien durch die blinde Apologie der Netanjahu-Regierung die Möglichkeiten verbaut, einmal wieder zur Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern beizutragen.

Die humanitäre Katastrophe nicht mehr zu ignorieren, von der die Menschen in Gaza erdrückt werden, wäre ein Schritt, um aus der Sackgasse einer einseitigen Nahostpolitik herauszufinden.


PODCAST-TIPP 1

Warum ist die Unterstützung für Palästinenser unter jungen Menschen tendenziell größer als unter älteren? Die New York Times hat versucht, diese Frage für das amerikanische Wahlvolk zu beantworten. Im Podcast „The Daily“ fasst der Journalist Jonathan Weisman die Sachlage ungefähr so zusammen: Es kommt darauf an, welchen Ausschnitt der Geschichte man selbst miterlebt hat.

Während Menschen im Alter von Joe Biden während des Holocaust bereits am Leben waren, mitunter selbst Überlebende kennen oder kannten, die Staatsgründung, Friedensprozesse und Angriffe auf Israel miterlebt haben, kennt die Generation Z (geboren zwischen 1995 und 2010) Israel primär als lokalen Hegemon mit militärischer Übermacht. Was das für die amerikanisch-israelischen Beziehungen und Bidens Wahlkampf bedeutet, hören Sie hier.


PODCAST-TIPP 2

Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 war von langer Hand geplant – und Israel wusste Bescheid. Zumindest formell. Doch die Warnungen wurden fatalerweise nicht ernst genommen, wie Ronen Bergman von der New York Times in diesem Podcast berichtet.

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