Bill Clinton hat 1998 das Impeachment überstanden. Die Welt stand Monate lang im Bann des Spektakels einer Supermacht, die Spermaspuren auf dem Kleid einer Praktikantin zur Staatskrise machte. Im Machtrausch missbrauchten die Republikaner die Verfassung, die einen Schutz gegen diktatorische Versuchungen im Präsidialsystem vorsah. Wenig später genierte sich halb Amerika für das verrückte Intermezzo. Das politische System war stark genug zur Selbstkorrektur. Bill Clinton, der 42. Präsident der Vereinigten Staaten, erscheint im Rückblick so erfolgreich, dass 2016 auch Hillary Clinton darauf aufbauen kann.
Beim Amtsenthebungsverfahren gegen Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff steht die Lebensfähigkeit der größten Demokratie Lateinamerikas auf dem Prüfstand. Der formale Anlass ist ebenso lächerlich, wie einst die Affaire Lewinsky in den USA: Rousseff hat, wie das so üblich ist, die Budgetzahlen manipuliert. Tatsächlich erschüttert ein gigantischer Korruptionsskandal rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras das gesamte politische System. Die Präsidentin ist jedoch persönlich nicht betroffen.
Hinter dem Absetzungsverfahren steht das Drängen der Eliten, die verhasste Partei des Arbeiterführers Ignacio „Lula“ da Silva von der Staatsspitze zu entfernen. Ein schlimmer Wirtschaftseinbruch demoralisiert die Wählerschichten, die der Arbeiterpartei PT bisher die Stange hielten. „Fome Zero“, „Null Hunger“ und andere Sozialprogramme haben 40 Millionen aus der Armut befreit. Während der volkstümliche Gewerkschaftsführer Lula Präsident war, wurde Brasilien zu einer globalen Erfolgstory. Der Absturz seither hat nur beschränkt mit dem Land selbst zu tun. Die schwache Nachfrage nach Rohstoffen aus China und der niedrige Ölpreis haben die tiefe Rezession ausgelöst. Politisch zahlt die Regierung den Preis.
Dilma Rousseff spricht von einem Staatsstreich. Unter dem Slogan „Nein zum Putsch“ sind Hunderttausende auf die Straße gegangen. Die Anspielung auf die rechte Militärdiktatur von 1964 bis 1985 ist unmissverständlich. Aber auch die Rousseff-Gegner demonstrieren. In den Meinungsumfragen wird die Präsidentin von weniger als 10 Prozent unterstützt. Rechte Fundis und Apologeten der Militärs jubeln. Die Versuche, das Volk gegen die Oberschicht zu mobilisieren, waren erfolglos.
Die Kombination der akuten Wirtschaftskrise mit den Revanchegelüsten der Rechten lassen Dilma Rousseff wenig Spielraum für ein Comeback. Die ehemalige Guerillera hatte im Kampf gegen die Militärdiktatur ihr Leben riskiert. Ihr Vorgänger und Mentor Ignacio „Lula“ da Silva ist als Straßenkind aufgewachsen. Der Weg vom Metallarbeiter in Sao Paolo zum Präsidenten hat ihn zum Symbol für ganz Lateinamerika gemacht. „Lula“ war der Che Guevara der demokratischen Linken. Diese Ära geht zu Ende.
Optimisten vergleichen Brasilien mit Italiens „Mani Puliti“, als selbstbewusste Richter dem korrupten System der Democrazia Cristiana ein Ende bereiteten. Auch bei den Untersuchungen gegen die PT spielt die Justiz eine große Rolle. Staatsanwalt Sergio Moro ermittelt gegen Lula wegen des Verdachts, dass sich der Ex-Präsident eine Ferienwohnung zahlen ließ. Vizepräsident Michael Temer, der Rousseff im Fall einer Amtsenthebung folgen würde, und Parlamentspräsident Eduardo Cunha, ein rechter Einpeitscher, sind schwer belastet.
Ein Rechtsruck in der öffentlichen Meinung ist trotzdem nicht auszumachen. Gegen das Macho-Gehabe der Rechten protestieren selbstbewusste Frauen. Rousseff gibt nicht auf. Würde jetzt gewählt, geben die Meinungsumfragen der Umweltaktivistin Marina Silva die besten Chancen. Sie hat sich vor Jahren von der PT getrennt, weil sie die Kompromisse mit dem Establishment nicht mittragen wollte. Die Basisbewegungen der landlosen Bauern und obdachlosen Arbeiter setzen auf Marina Silva.
Die extremen sozialen Unterschiede Brasiliens sind auch nach 13 Jahren linker Regierung geblieben. Aber die PT hat Sozialgesetze durchgesetzt, die das Leben von Millionen verändert haben, während puristische Linke sich auf Kritik am System beschränkten. Eine Erfahrung aus der Frühzeit der europäischen Sozialdemokratie. Das ausgeklügelte System, durch staatliche Gelder korrupte Parteien und Abgeordnete bei der Stange zu halten, vom dem auch die Arbeiterpartei selbst angesteckt wurde, gehörte fast zwangsläufig zum Regieren.
Stefan Zweig hat Brasilien nach seiner Flucht vor den Nazis als „Land der Zukunft“ bezeichnet. Beim Machtverlust angeschlagener Mittelinks-Regierungen in Europa wird die Gefahr eines autoritären Pendelschlages ähnlich groß sein, wie heute in Brasilien.