Bei den Pagoden von Bagan, der historischen Tempelanlage in Myanmar, verkaufen Händler Raubkopien von George Orwells frühem Roman „Tage in Burma“. Der Schriftsteller zeichnet ein Bild des korrupten Alltags in der britischen Kolonialwelt, den er als Polizeioffizier in Burma selbst erlebt hat. Die Generäle, die das Land nach der Unabhängigkeit gepeinigt haben, führten den neuen Namen Myanmar ein. Nur Nordkorea war von der Außenwelt mehr abgeschottet, als die mit sozialistisch-nationalistischer Ideologie regierende Junta. Jetzt zerfällt das System der burmesischen Militärherrschaft, wie das britische Imperium zu Orwells Zeiten.
Mit den Parlamentswahlen Anfang November setzt Myanmar den bisher größten Schritt in Richtung einer zivilen Regierung. Es ist ein historischer Vorgang mit Auswirkungen für ganz Asien. Erstmals seit einem viertel Jahrhundert triumphiert die demokratische Opposition unter der Führung von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi.
Ihre Nationale Liga für Demokratie NLD hat schon 1990 Wahlen gewonnen. Die Militärs annullierten damals das Ergebnis, ließen Aktivisten ermorden und verhaften. Aung San Suu Kyi stand in Yangon unter Hausarrest und wurde zur politischen Gefangenen. Die Wahlen 2015 besiegeln ihr Comeback als Symbolfigur des Widerstandes.
Fotos der unbeugsamen „Lady“ hängen auf den Märkten und kleben auf den Windschutzscheiben der Taxis. Hinter der Vergötterung Aung San Suu Kyis steht auch ein dynastisches Prinzip. Ihr Vater Aung San war Führer der Unabhängigkeitsbewegung gegen die Briten. Er wurde während einer Regierungssitzung von Rivalen ermordet.
Burmesische Gesprächspartner vergleichen Aung San Suu Kyi mit Mahatma Gandhi und Nelson Mandela. So personalisiert war der Wahlkampf ihrer Partei, dass von einem Programm wenig zu vernehmen ist. Mitstreiter kritisieren, sie sei selbstherrlich geworden und autoritär. Das erschwert Kontakte zu Bündnispartnern. Aber Myanmar ist ein ungeheuer kompliziertes Land, mit 130 Nationalitäten, Warlords in fernen Provinzen und einem halben Dutzend ungelöster Bürgerkriege. Ohne eine starke Identifikationsfigur werden die demokratischen Kräfte nicht regieren können.
Die politische Dynamik erinnert an die letzten Jahre der Ära Pinochet in Chile. Die westlichen Sanktionen waren in Myanmar zur Hürde für die wirtschaftliche Entwicklung geworden und China als einziger Verbündeter zu erdrückend. Sogar die Streitkräfte wollten die Isolation überwinden. Die Militärs haben eine Verfassung geschrieben, der ihren Einfluss fortschreibt: ein Viertel der Parlamentssitze ist Vertretern der Streitkräfte vorbehalten. Die Generäle wollen Garantien, dass sie ihre lukrativen Geschäfte weiterführen können und eines Tages nicht vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag landen, urteilt ein Kenner des Landes in Yangon.
Ein wichtiger Machtfaktor in dem zutiefst buddhistischen Staat sind die Mönche. Millionen Waisen und Kinder aus armen Familien, die von den Eltern nicht versorgt werden, landen in den Klöstern. Mit ihren Esstöpfen betteln sie an den Straßenkreuzungen. Noch vor wenigen Jahren sind die Mönche gegen die Militärregierung auf die Straße gegangen. U Wiratu, ein einflussreicher Geistlicher, erwirkte einen Kurswechsel: seine ultranationalistische Organisation trommelt gegen die angebliche Islamisierung Myanmars, wenn islamische Minderheiten mehr Rechte bekommen. Der buddhistische Chauvinismus eint extremistische Mönche und die militärnahe Regierungspartei.
Den schlimmsten Preis für die nationalistische Welle zahlen die Rohingya, eine Minderheit im Nordwesten, wo es 2012 antiislamische Pogrome gegeben hat. Die Regierung behauptet, es handle sich um illegale Einwanderer aus Bangladesch. Sie hat einer Million Rohingya das Wahlrecht entzogen. Zehntausende leben als staatenlose Flüchtlinge im eigenen Land in militärisch verwalteten Camps. Aung San Suu Kyi wollte auf die Stimmen buddhistischer Nationalisten nicht verzichten und hat sich im Wahlkampf nur sehr vorsichtig geäußert. Trotzdem wurde sie als Handlangerin der erfundenen Islamisierung denunziert.
Den überwältigenden Triumph ihrer Nationalen Liga für Demokratie konnte die Hetze nicht verhindern. Wahrscheinlich werden für eine Regierungsbildung Koalitionsverhandlungen erforderlich sein. Sie wird über dem Präsidentenamt stehen, das ihr verwehrt ist, weil ihre Söhne britische Staatsbürger sind, hat Aung San Suu Kyi angekündigt. Ein Modell, für das es Vorbilder gibt: Sonja Gandhi in Indien, die Witwe des ermordeten Rajiv Gandhi, zieht in der Kongresspartei die Fäden. Genauso wie in Indonesien Megawati Sukarnoputri, die Tochter des früheren linksnationalistischen Präsidenten Sukarno.
Ob die Militärs einer indonesischen Variante zustimmen, ist eine der Fragen der nächsten Monate. Auf fünf Prozent schätzt ein Beobachter in Yangon die Gefahr eines Putsches, sollte die erhoffte Demokratisierung im Schatten der Generäle scheitern.