Der geopolitische Krimi um die Attentate gegen Nord Stream erklärt

Die Welt wird ungemütlicher. Was noch vor Kurzem als undenkbar galt, ist plötzlich Realität. Der jüngste Fall sind die Sabotageakte an den Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Wir erleben einen Krimi mit weitreichenden geopolitischen Konsequenzen.

Die beiden Pipelines verlaufen von Russland unter Wasser durch die Ostsee nach Deutschland. Anfang der Woche war von einem mysteriösen Druckabfall die Rede, dann von merkwürdigen Schäden an der Konstruktion aus Stahl und Beton.

Inzwischen ist klar: Vergangenen Montag hat es 70 Meter unter dem Meeresspiegel ein groß angelegtes Attentat gegeben. Ziel war zwei Mal Nord Stream 1 und einmal Nord Stream 2. Ort des Anschlages war die Ostsee unweit einer dänischen Insel namens Bornholm. Die Explosionen unter Wasser waren am Montag so stark, dass sie von den geologischen Diensten Schwedens und Dänemarks registriert wurden.

Gas fließt durch die Rohre im Moment keines. Wegen der europäischen Sanktionen gegen Russland und weil Nord Stream 2 nie eröffnet wurde. Gas tritt jetzt in großen Mengen aus, weil der Druck auch ohne Betrieb aufrecht bleiben sollte. Es ist unklar, ob der Schaden überhaupt repariert werden kann.

Nord Stream 1 und Nord Stream 2 waren politisch immer hochsensibel. Durch diese Rohre wurde Gas direkt von Russland nach Deutschland transportiert, unter Umgehung der Ukraine. Die Pipelines gehören dem russischen Energieriesen Gazprom. Gekostet hat das alles Milliarden. Beteiligt ist die OMV, Österreich hat massiv für Nord Stream 2 geworben.

Die Ukraine, Polen und die USA sind immer schon gegen die Verbindung Sturm gelaufen, weil eine russisch-deutsche Achse im Interesse Putins liegt. Angela Merkel, unterstützt von der SPD, hat das Projekt trotzdem vorangetrieben. Jetzt liegt alles in Scherben, so wie die gesamte bisherige Russlandpolitik Deutschlands und Österreichs.

Wer kann die Pipelines gesprengt haben? Klar ist, dass es keine Hobbyattentäter gewesen sein können. Dazu ist die Aktion zu groß. Man denkt an Unterwasserroboter (möglich), Unterwasserdrohnen (möglich), U-Boote (eher unwahrscheinlich) oder Kriegsschiffe (sehr unwahrscheinlich). Über solche Geräte verfügt die Kriegsmarine der Russischen Föderation und wohl auch diverser NATO-Staaten.

Ohne belastbare Informationen bleibt die entscheidende Frage: Cui bono? Wem nützen diese Attentate? Die Antwort ist nicht einfach. Natürlich ist es im Interesse der Ukraine, dass die Gasverbindung zwischen Russland und Deutschland auf Dauer zerstört wird. Aber könnten die Ukrainer eine solche Aktion überhaupt durchführen? Ist es denkbar, dass ein pro-ukrainischer westlicher Geheimdienst die Gazprom-Leitung angegriffen hat? Etwa der CIA oder der britischen MI6? Ausgerechnet der ehemalige polnische Außenminister und Europaabgeordnete Radosław Sikorski, ein ausgewiesener Atlantiker, hat solche Spekulationen auf Twitter mit einem Tweet „Thank you, USA“ über einem Bild der sprudelnden Ostsee angeheizt.

Russische und chinesische Stimmen, die hinter jedem Übel in der Welt immer die USA vermuten, stellen ähnliche Spekulationen an. Aber wozu würden die USA oder Großbritannien Deutschland so nachhaltig verstören, wenn sich die Ampel-Regierung in Berlin gerade in die Front der Solidarität mit der Ukraine einreiht? Eine derart riskante und unnötige Aktion passt so gar nicht zur vorsichtigen Außenpolitik von Joe Biden und Antony Blinken. Die Spekulation in Richtung Amerika ergibt keinen Sinn.

Hat Russland also die eigene zu Gazprom gehörende Pipeline angegriffen? Auf den ersten Blick erscheint das absurd. Andererseits: Vladimir Putin bricht gerade mit der Annexion der besetzten ukrainischen Gebiete und den Drohungen mit Atomwaffen auf Jahre alle Brücken zu den europäischen Nachbarn ab. Normale Gasgeschäfte wird es mit Russland nicht mehr geben. Wenn Nord Stream in die Luft geht, welche anderen Pipelines sind dann noch sicher?

Gasleitungen von Norwegen nach Polen oder von Algerien nach Frankreich sind genauso verletzlich wie die russisch-deutschen Röhren. Norwegen meldet verdächtige Drohnen in der Nähe seiner Ölbohrinseln. Und was passiert, wenn die Unterwasserkabel zwischen Amerika und Europa, die für Internet und Telefonie lebenswichtig sind, plötzlich nicht mehr sicher sind?

Der russische Geheimdienst hat das Nervengift Polonium gegen Dissidenten und Geheimdienstüberläufer in Großbritannien eingesetzt. Agenten des Militärgeheimdienstes GRU haben Waffenlager in Tschechien und Bulgarien gesprengt. Anonyme Anschläge gehören zum Repertoire jeder Kriegsführung. Die Destabilisierung der Infrastruktur westlicher Staaten, die der Ukraine helfen, sich zu verteidigen, nützt dem Kreml in einem Krieg, der auf dem Schlachtfeld für Russland nicht gut läuft.

Weder die USA noch die NATO haben bisher Russland beschuldigt, man ist bemüht, eine verbale Eskalation zu vermeiden. Russisches Gas fließt kurioserweise nach wie vor über Pipelines auf dem Landweg durch die Ukraine in den Westen. Gazprom will diese Lieferungen drosseln.

Das Attentat gegen die Gaspipelines in der Ostsee kann ein Signal sein, dass die Infrastruktur Westeuropas ab jetzt ins Visier der russischen Strategen gerät.

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