Auf Russland zugehen, aber wie?

Vladimir Putin kann den Krieg nicht mehr gewinnen, den er am 24.Februar 2022 vom Zaun gebrochen hat. Das strategische Ziel des Kreml, die Ukraine als eigenständigen Staat zu zerstören und eine Marionettenregierung einzusetzen, ist nicht zu erreichen. Aber ein Eingeständnis der Niederlage ist für die Russische Föderation unter Putin unvorstellbar. Moskau kommandiert mehr als die Hälfte aller Atomwaffen, die es weltweit gibt. Die Folge sind große Risiken für die Ukraine, Europa und die ganze Welt.   

  Im Süden kündigt die russische Militärführung einen Kampf um die Stadt Cherson an, das Tor zur Krim. Der neue Oberbefehlshaber Alexander Dwornikow spricht ungewöhnlich düster von schwierigen Entscheidungen. Die Warnung kann bedeuten, dass  die Russen einen Rückzug vorbereiten. Sie kann aber auch ein Hinweis sein, dass die Sprengung eines Staudamms überlegt wird,  die das gesamte umliegende Gebiet überschwemmen würde. Der ukrainische Präsident Selenskyi sagt, die Staumauer ist  vermint worden. Im direkten Gespräch klingt er manchmal verzweifelter, als im Fernsehen.

  Kamikazedrohnen zerstören ukrainische Kraftwerke bis weit im Westen des Landes. Es sind  Kriegsverbrechen, die aber für die  militärische Lage an der Front keine Auswirkungen haben. Die Russen sind in der Defensive. Die Ukrainer hoffen, dass sie noch vor Einbruch des Winters weitere Gebiete zurückerobern können.  

 Die erfolgreiche Abwehr des russischen Überfalls hat dem ukrainische Nationalbewusstsein einen Schub historischen Ausmaßes verliehen. Fast alle russischsprachigen Ukrainer sind patriotisch geworden.

 Waffen und finanzielle Unterstützung aus den USA und Europa machen den Verteidigungskampf möglich. Zuletzt hat die Europäische Union bei der militärischen Assistenz nachgelegt. Eine EU-Ausbildungsmission für bis zu 15 000  ukrainische Soldaten wird aufgebaut. In Großbritannien passiert das längst.  Österreich beteiligt sich  über die EU-Mitgliedsbeiträge an der Finanzierung. Aber von der EU-Ausbildungsmission hält sich das  Bundesheer zur Zeit fern. Hoffentlich nicht für immer. Wien hätte eine Gelegenheit in der europäischen Sicherheitspolitik Solidarität zu zeigen.

  Ein dreiviertel Jahr nach Kriegsausbruch herrscht ein labiles Gleichgewicht. Der französische Europaabgeordnete Bernhard Guetta zieht den Schluss, dass zu den Waffen für den Abwehrkampf auch ein politisches Angebot an Russlands Bürger kommen sollte. Guetta warnt davor Russland bestrafen zu wollen. Der Westen würde den gleichen Fehler machen wie die Siegermächte des Ersten Weltkrieges gegenüber Deutschland mit dem Vertrag von Versailles. Deutschland sollte 1919 geschwächt werden. Das Resultat war das Bedürfnis nach Revanche, das half Hitler an die Macht zu bringen. 1945 waren die Sieger klüger und streckten den unterlegenen Deutschen die Hand zur Versöhnung aus.

  Russland sollte wissen, dass ein gemeinsames Haus Europa, das sich einst Michail Gorbatschow gewünscht hat, möglich ist, wenn die Aggression einmal aufhört. Die NATO sollte feierlich erklären, dass der Westen keinen Millimeter des ursprünglichen Territoriums der Russischen Föderation beansprucht, verlangt Guetta. An einem Zerfall Russlands in Mafiastaaten mit Atomwaffen nach dem Ende Putins  hat Europa kein Interesse.

  Tatsächlich besteht auch die Gefahr des Appeasement, der Vorstellung, dass Friede einziehen wird, wenn man dem Aggressor nur nachgibt. An Peinlichkeit nicht zu überbieten ist Italiens Silvio Berlusconi, der über eine Kiste Vodka zum Geburtstag samt einem lieben Brief seines Freundes Putin jubelt. Gefährlicher klingt eine Meldung aus den USA. Die Vereinigten Staaten werden die ukrainischen Verteidigung nicht endlos finanzieren, warnt Kevin McCarthy, der  republikanische Minderheitsführer im Repräsentantenhaus. Bei den Kongresswahlen Mitte November könnten die Republikaner siegen. Donald Trump, unverändert der einflussreichste Politiker im republikanischen Lager, hatte immer schon eine Schwäche für Putin. Der Spielraum Joe Bidens würde  durch einen Machtwechsel im Kongress schrumpfen.

  Eine Kombination von Waffen für die Ukraine und die Ankündigung einer politischen Öffnung, wenn Russland von seinem Kriegskurs ablässt, wäre das Gegenteil von Appeasement. Junge Russen, die sich weigern für Putin in den Krieg zu ziehen, sollten in Europa willkommen sein. So wie einst die Amerikaner, die ihre Einziehungsbefehle für den Vietnamkrieg verbrannten und sich nach Kanada oder Frankreich absetzten. Die Perspektive eines Neuanfangs zwischen einem demokratischen Russland und Europa nach dem Krieg würde helfen, den russischen Kriegstreibern die Basis zu entziehen.  

ZUSATZINFORMATION

„EU Military Assistance Mission“ (EUMAM) für die Ukraine.

  Ab Mitte November werden 15 000 ukrainische Soldaten in Polen und Deutschland trainiert. Frankreich bildet 2000 Ukrainer aus. In Deutschland soll die Luftabwehr geübt werden. Auch Minensuche, der Schutz vor ABC-Waffen und die Drohnen-Abwehr stehen auf dem Programm. Die erforderlichen 106,7 Millionen Euro kommen aus dem EU-Budget. Österreich stimmt zu, will sich zur Zeit aber nicht beteiligen.

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