Armes Russland

Die bewegendste Reaktion auf den Tod Michail Gorbatschows kam aus dem Straflager 5 in Melechowo 250 km nordöstlich von Moskau. Alexej Nawalny, der bekannteste Häftling Russlands, hat vom Tod des letzten Präsidenten der Sowjetunion über das Gefängnisradio erfahren. Er befreite die letzten politischen Gefangenen der Sowjetunion, schreibt Nawalny.  Dass wir aus dem Lautsprecher im Gefängnis  über seinen Tod informiert werden, zeigt, wie es um die Veränderung steht, die er angestoßen hat. Der Rebell Nawalny hat als radikaler Demokrat  mit dem Reformer Gorbatschow nicht viel  anfangen können. Aber seine Macht hat er nie zu seinem persönlichen Vorteil ausgenützt, erinnert sich Nawalny. Er ist friedlich abgetreten, ein großer Schritt.

    Die Freilassung des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow war 1985 das erste Signal, dass es Gorbatschow mit seinen Demokratisierungsversprechen ernst meint. Vier Jahre später waren Dissident und Generalsekretär Kontrahenten im ersten Volkskongress. Das Fernsehen übertrug ohne Zensur und live. Als junger Student war Gorbatschow im Studentenheim in Moskau am Fenster gestanden, als Josef Stalin beerdigt wurde. Zimmergenosse Zdenek Mlynar, später ein führender Reformkommunist der Tschechoslowakei, erzählt, das alle Studierenden bitterlich geweint haben. Mit Ausnahme Gorbatschows. Dass Stalin ein Massenmörder war, war damals für Kommunisten fern jeder Vorstellungskraft, trotz aller Skepsis.  Michail Sergejewitsch Gorbatschow war ein Reformer in revolutionären Zeiten. An diesem Widerspruch ist er gescheitert, ein Unglück für Russland.     

  Es gab kein Staatsbegräbnis für den demokratischen Sozialisten Gorbatschow. Keine Behörde ließ die Fahnen auf Halbmast setzen.  Die Trauerfeier in Moskau wurde zum stillen Protest gegen die russischen Verhältnisse von heute. Geheimdienste, oberste Militärs und autoritäre Nationalisten, die die Öffnung schon vor 30 Jahren bekämpft haben, ermöglichten die Konterrevolution Vladimir Putins.   

  Die Verachtung, ja der Hass, den Gorbatschow als angeblicher Totengräber des sowjetischen Imperiums im eigenen Land entgegen schlug, ist ein schlimmes Zeichen für Russland. Dabei hat nicht Gorbatschow die Sowjetunion aufgelöst, sondern der mit ihm verfeindete Jelzin. Gorbatschows Ziel war eine Föderation  selbständiger Republiken.  Gegen den Separatismus der Aserbeidschaner, Georgier und Litauer ließ er Panzer auffahren, mit Dutzenden Opfern. Aber die großen Repressionswelle, die von den Hardlinern gefordert wurde, blockierte er. Millionen in Osteuropa sind durch das Veto Gorbatschows gegen Gewalt frei geworden.

   Das Lager der russischen Demokraten misstraute ihm, weil er sich nicht zum Bruch mit der kommunistischen Nomenklatura  entscheiden wollte. Hätte Gorbatschow damals die KPdSU gespalten und eine neue Partei gegründet, die Nachwelt würde ihn wohl positiver sehen hätte. Für  kommunistischen Reformismus war die Zeit abgelaufen.   

  Den Schlussstrich unter den Kommunismus zogen Jelzin und der liberale Bürgermeister von Leningrad, Anatolj Sobtschak, unter deren Fittichen der KGB-Mann Wladimir Putin groß wurde. Putin vollzog  den Jobwechsel vom Geheimdienst in die Politik. Im postrevolutionären Chaos gingen die einstigen  Radikaldemokraten eine groteske Allianz mit dem Sicherheitsapparat ein, weil sie angesichts des  ökonomischen Desasters keinen Ausweg wussten.  Nobelpreisträger Paul Krugman ruft in der New York Times (“Wonking Out: The Nightmare after Gorbachev“)  den verheerenden Absturz  in Erinnerung. Die Wirtschaftsleistung fiel in den Jelzin Jahren um 40 Prozent. Die Inflation erreichte 2000 Prozent. Die durchschnittliche Lebenserwartung ging auf 65 Jahre zurück. Die Kleptokratie der einstigen demokratischen Elite ließ die Oligarchen groß werden, die bis heute die russische Wirtschaft prägen.

  Als sich herausstellte, dass diese angeblichen radikalen Demokraten größtenteils Diebe und Lügner waren, blieb Gorbatschow einer der wenigen, die ihre Macht nicht zur persönlichen Bereicherung benützt haben, schreibt Nawalny in seinem Nachruf.

 Die faschistische Wende, die Russland unter Wladimir Putin genommen hat, ist auch eine Reaktion auf die wirtschaftliche Not der 1990er-Jahre. Putin hat  tatsächlich Stabilität gebracht. Repression, Korruption und politische Willkür nahmen die  Bürger in Kauf. Das Aufbäumen der Zivilgesellschaft, wie bei den Demonstrationen nach den getürkten Wahlen 2011 und nach der Verhaftung Alexej Nawalnys 2021, ging in die Leere. Frontal gegen Putin hat sich auch Michail Gorbatschow nie gestellt. Die Annexion der Krim hat er gut geheißen, zum Ukrainekrieg schwieg er. Der Zeitgeist schlägt sich in der patriotisch-chauvinistischen Indoktrinierung von der ewigen Größe Russlands nieder, die seit diesem Herbst alle Schulkinder über sich ergehen lassen müssen. Das ominöse Z-Zeichen für Krieg, Zensur und Hass  ersetzt Sichel und Hammer auf den roten Fahnen von einst. Armes Russland.

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