In Tunesien hat einst der arabische Frühling begonnen. Das Schicksal eines verzweifelten Gemüsehändlers, den die Behörden so lange quälten, bis er sich selbst angezündet hat, löste Massenproteste und einen politischen Umsturz aus. Zehn Jahre später wird das kleine Land in Nordafrika neuerlich zum Brennpunkt. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Partei der tunesischen Muslimbrüder namens Ennahda. Ennahda ist eine gemäßigt-konservative islamistische Organisation, die aus den freien Wahlen der letzten Jahre wiederholt als stärkste Kraft hervorgegangen ist. Sie stellte zuletzt den Premierminister. Ende Juli ließ der tunesische Präsident Kais Saied, ein säkulärer Politiker, das Parlament per Panzer für 30 Tage sperren. Die Regierung wurde in die Wüste geschickt. Der Staatschef ist mit den Streitkräften verbündet, er stützt sich auch auf viele Unzufriedene in der Bevölkerung. Ob die parlamentarische Demokratie den Machtkampf zwischen dem Staatschef und der islamistischen Mehrheitspartei überlebt, ist für die ganze Region von Bedeutung.
Tunesien ist das einzige Land der arabischen Welt, in dem die erkämpften Freiheitsrechte der Proteste vor zehn Jahren überlebt haben. Nach der Vertreibung des Diktators Ben Ali wurde eine Verfassung für ein Mehrparteiensystem geschrieben. Frauen waren in Tunesien immer schon besser gestellt, als in anderen arabischen Staaten. Die Gleichberechtigung ist jetzt festgeschrieben. Die Gewerkschaftszentrale UGTT ist ein zentraler Machtfaktor. Der andere große Player sind die Islamisten der Ennahda. Ennahda heißt Wiedererwachen. Die Partei bezeichnet sich selbst als islamisch-demokratisch. Weil Ennahda in der Tradition der Muslimbrüder steht, bringt sie säkuläre Tunesier zur Weißglut.
Wie in anderen Staaten haben sich die Islamisten in Tunesien als Regierungspartei durch Korruption und Ineffizienz diskreditiert. Auf die Pandemie war der Staat verheerend schlecht vorbereitet. Im Fernsehen sieht man weinende Spitalsärzte, weil der Sauerstoff fehlt, um das Leben von Patienten zu retten. Vom Fernziel eines als Kalifat bezeichneten Gottesstaates sind sie abgerückt, die Propaganda für die Scharia macht vielen Menschen jedoch Angst. Die Versuchung ist groß, die ungeliebte Partei auf autoritärem Weg auszuschalten. Ägypten und Saudi Arabien drängen den tunesischen Präsidenten gegen die Muslimbrüder hart durchzugreifen und seinen Coup gegen Ennahda zu vollenden.
In Tunesien gibt es unverändert eine freie Presse. Die vor zehn Jahren erkämpften Freiheiten sind intakt. Ein anhaltender Konfrontationskurs von Präsident und Armee gegen die größte Parlamentspartei, wie das die Diktatoren der Region fordern, wäre für die demokratischen Errungenschaften tödlich.
Die tunesische Erfahrung unterstreicht, wie wenig Sinn es macht Akteure, die sich mit dem Islam in unterschiedlichen politischen Kulturen identifizieren, über einen Kamm zu scheren. Ennahda ist eine konservative Regierungspartei, die jetzt verdrängt werden soll. In Ägypten ist die Situation völlig anders. Die Muslimbrüder, eine in den 1930-er Jahren gegründete panarabische Strömung traditionsgebundener Islamisten, werden von den regierenden Militärs als Terroristen gebrandmarkt und landen im Gefängnis. In Israel gehört die mit der Muslimbruderschaft verbundene arabische Raam Partei dagegen zur aktuellen Regierungskoalition. Der Begriff des politischen Islam, wie er hierzulande summarisch verwendet wird, vernebelt eine widersprüchliche Realität.
Mit den Muslimbrüdernwurde die österreichische Öffentlichkeit bei einer Razzia Ende 2020 bekannt. Der Innenminister präsentierte die Polizeiaktion als großen Schlag gegen den Terrorismus. 930 schwerbewaffnete Cobra-Leute und Polizeibeamte hatten nach monatelanger Planung unter dem Titel Operation Luxor 60 Hausdurchsuchungen durchgeführt. Inzwischen haben die Gerichte dem Einspruch von Beschuldigten gegen die Razzia recht gegeben, weil die Bruderschaft in Europa keiner terroristischen Aktivitäten verdächtigt wird. Ehemalige Staatspolizisten behaupten nach Recherchen der „Presse“, dass die gesamte Aktion politisch getürkt war. Unter dem Vorwand des Schutzes vor Terrorismus war die islamfeindliche Stimmung in Österreich angeheizt worden.
Islamistische Ideen sind in Österreich keine politischen Faktoren wie in der arabischen Welt, aber sie finden in der migrantischen Subkultur der Jugend Verbreitung. Antiterroreinheiten gegen muslimische Familien in Österreich und Panzer vor dem Parlamentsgebäude, wie in Tunis, sind der falsche Weg in einer Auseinandersetzung, die um die Köpfe der Menschen geführt werden muss.
ZUSATZINFO
Die islamistische Partei Ennahda hat die Ausschaltung des tunesischen Parlaments durch den Präsidenten anfangs als Putsch bezeichnet. Inzwischen gibt die Partei eine eigene Mitschuld an der politischen Krise zu und verlangt einen Dialog. Der Präsident Tunesiens regiert per Notverordnung und lehnt eine Verständigung mit den Parlamentsparteien ab.