Großbritannien, eine Großmacht des alten Kontinents, steht nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Schotten möglicherweise vor dem Zerfall. Wenn die Gegner einer Trennung vorne bleiben, folgt zumindest eine tiefgreifende Staatsreform.
Die Folgen für Europa sind in jedem Fall explosiv: schon jetzt drängen katalonische Nationalisten darauf, es den Schotten nachzutun. In der nächsten belgischen Regierung werden die flämischen Separatisten die stärkste Partei sein. Für 2017 hat der britische Premier sein Referendum über Verbleib oder Austritt aus der EU versprochen. Egal wie weit die Macht Londons dann reichen wird: die EU muss sich neu erfinden, wenn der Zerfallsprozess der Staaten nicht auch die Union erfassen soll.
Die nächsten Jahre werden politisch turbulent. Das zeigt eine französische Umfrage, wonach Rechtsaußenpolitikern Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen 2017 gewinnen könnte. Es droht ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Stagnation. Dazu kommen die bösen Überraschungen, die der revisionistische Nationalismus Russlands den Europäern noch bereiten könnte.
Wie die Europäische Union reagiert, hängt primär von den Mitgliedsstaaten ab. Aber an der Spitze der nächsten Europäischen Kommission wird Jean Claude Juncker kräftig mitmischen. Das steht seit letzter Woche fest. Juncker versteht die Kommission nicht als Verwaltungsapparat für den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern als politische Regierung der EU. Als erfolgreicher Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei kann sich der Luxemburger auf die Wähler berufen.
Mit vier ehemaligen Regierungschefs im Team hat die neue Kommission die Möglichkeit prominent in die europäische Zukunftsdebatte einzugreifen. Juncker-Vertraute wiederholen es mit Verve: die Brüsseler Behörde muss sich weniger um die Wattleistungen der Staubsauger kümmern, dafür mehr um die großen Fragen des Kontinentes. Dazu soll die neue Struktur dienen, in der sieben Vizepräsidenten koordinieren und Prioritäten setzen.
Ob das funktioniert, wird vom Zusammenspiel der starken Persönlichkeiten abhängen. Die Schwäche der Kommission im vielstimmigen Entscheidungsprozess der EU hat der langjährige luxemburgische Regierungschef auf jeden Fall erkannt.
Bereits tobt der Meinungsstreit im Europäischen Parlament. Das letzte Okay für die Kommission kommt erst nach Hearings für jeden einzelnen Kommissar. Sozialdemokraten und Grüne laufen gegen den EU-Skeptiker Jonathan Hill als Bankenregulierer Sturm. Der britische Lord hat als Lobbyist für Finanzfirmen gearbeitet. Deutsche Konservative reiben sich an Währungskommissar Moscovici. Der linke Franzose schaffte als Finanzminister die heilige Defizitgrenze von 3 Prozent nie. Abgeordnete unterschiedlichster Couleur empören sich über Alenka Bratusek aus Slowenien, die sich als zurücktretende Ministerpräsidentin selbst nominiert hat. Jetzt soll sie sogar Vizepräsidentin der Kommission werden.
2004 musste Italien Rocco Butiglioni als Justizkommissar zurückziehen, weil der konservative Katholik beim Hearing Homosexualität als Sünde bezeichnete. 2010 warf die damalige bulgarische Außenministerin Schelewa nach einer schwachen Performance das Handtuch. Die deutsche Bild-Zeitung hatte sie als „Räuberbraut“ verunglimpft.
Inzwischen sind die Fronten noch härter geworden. Das Europaparlament kann sich für einige Kommissare in Spe noch als schwierige Hürde herausstellen.
Juncker verfolgt mit seiner Kompetenzverteilung ein klares Ziel: die Kommissare sollen sich genau um jene Dossiers kümmern, die in ihren Ländern besonders kritisch betrachtet werden. Die Niederlande zettern über zu viel Bürokratie? Jetzt wird der niederländische Außenminister Frans Timmermans Entbürokratisierungskommissar. Ungarn sieht die EU voller Feinde christlich-abendländischer Werte? Der einflussreiche Fidesz-Politiker Tibor Navracsics, zuletzt Außenminister unter Orban, darf sehen, wie er als Kommissar für Kultur und Bildung mit dem multikulturellen Europa zurechtkommt. Die Österreicher wollen mehr Dialog mit Putin? Darum soll sich jetzt Johannes Hahn kümmern. Genau dieser Logik entspricht auch die Nominierung der Kommissare aus Frankreich und Großbritannien.
In den meisten Hauptstädten ist man hoch zufrieden. Eine der wichtigsten Aufgaben für jeden Kommissar ist es, die Politik der gesamten Institution im eigenen Land zu verteidigen. Als erfahrener Europapolitiker weiß Juncker: gegen ihren Willen kann die EU den Mitgliedsstaaten kaum etwas aufzwingen. Aber wenn die Staaten eingebunden sind, werden sie sich möglicherweise bewegen. In der Eurokrise hat das Pendel in Richtung der Nationalstaaten ausgeschlagen. Die Juncker-Kommission bietet die Chance zu einer Gegenbewegung.