Europa muss sich entscheiden, 24.12.2014

Im Brüsseler Europaviertel spuckt der Flughafenbus jeden Tag hunderte Experten aus, die, ausgerüstet mit kleinen Rollkoffern, aus den 28 nationalen Hauptstädten zu irgendeiner Verhandlungsrunde der EU eilen. Es sind diese Rollkofferträger, die Europa zusammenhalten. Denn die EU hat keine Armee und keinen Geheimdienst. So wie einst die reitenden Boten im Reich Karls des Großen sorgen die reisenden Experten für die gemeinsame Meinungsbildung quer über den Kontinent.

Österreich ist durch den EU-Beitritt auf allen Ebenen Teil dieses Entscheidungsprozesses geworden. Für die Alpenrepublik, die sich gerne als singuläre Insel der Seligen gesehen hat, war das eine Revolution, die auch nach 20 Jahren noch nicht ganz verdaut ist: mit seinen acht Millionen Einwohnern ist Österreich fester Teil eines global agierenden Machtblocks mit 506 Millionen Bürgern. Die Konsequenzen erlebt man als Europakorrespondent jede Woche: es gibt häufig mehr EU-Ministerräte in Brüssel als Regierungssitzungen in Wien.

Ökonomisch ist die EU-Mitgliedschaft ein riesen Erfolg. Die Österreicher haben die westlichen Nachbarn überholt. Mit der neuen politischen Wirklichkeit, als Teil eines größeren Ganzen zu agieren, tut sich das Land aber schwer. Politische Unzufriedenheit äußert sich in den grassierenden Anti-EU-Parolen der Rechten.

In Österreich mischt sich der nationalistische Populismus, den es auch in anderen EU-Staaten gibt, mit der Nostalgie nach der vermeintlichen Selbstbestimmung der Vergangenheit. Dabei vergisst man leicht, dass der österreichische Schilling völlig an die Deutschen Mark gebunden war. Die Neutralität hat Österreich nur sicher gemacht, weil das Gleichgewicht des Schreckens zwischen NATO und Warschauer Pakt den Frieden garantierte.

Für den EU-Beitritt vor 20 Jahren mussten damals SPÖ und ÖVP skeptische Lobbys in den eigenen Reihen überwinden. Widerstand kam von Agrariern und Frächtern, aus den Gewerkschaften und der Umweltbewegung. Anders als bei der Gründung der Republik 1918 und nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Großmächte die Stellung Österreichs in der Welt bestimmten, ist der Volksentscheid für den EU-Beitritt aber eine völlig freie Entscheidung gewesen. Daher ist Österreichs Bindung an die Europäische Union auch belastbarer, als manch schlechte Umfragewerte vermuten lassen. Trotz der Sanktionen gegen die schwarz-blaue Regierung 2000 ist der damalige Bundeskanzler Schüssel von einem proeuropäischen Kurs nie abgewichen. In der Eurokrise wurde der anfangs skeptische Werner Faymann zum glühenden Europäer. Trotz der vielen Putin-Freunde in der Wirtschaft trägt Wien die außenpolitischen Sanktionen gegen Russland mit.

Der wichtigste Höhepunkt der europäischen Entwicklung war für Österreich zweifelsohne die anfangs mit großer Skepsis betrachtete Ostöffnung der EU: kein anderes Ereignis hat das Leben der Menschen so verändert, wie die offenen Grenzen zu den Nachbarn.

Die schwierigste Phase bleibt im Rückblick die scharfe Reaktion der 14 EU-Staaten auf die Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Jörg Haider. Erst der Bericht des Weisenrates unter dem ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtissari, der die blauschwarze Regierung von Grundrechtsverletzungen freisprach, brachte einen Ausweg. Bis heute wird in der EU diskutiert, wie Europa mit Rechtsaußenparteien umgehen soll.

20 Jahre nach dem österreichischen EU-Beitritt geht es dem europäischen Projekt nicht gut. Populisten, die lautstark ein Zurück zum Vorrang der Nationalstaaten verlangen, sind in der Offensive. 2017 will David Cameron in Großbritannien sein EU-Referendum durchführen. Im gleichen Jahr finden in Frankreich Präsidentschaftswahlen statt, bei denen die radikale EU-Gegnerin Marine Le Pen ganz vorne mitmischen wird. Auch Österreich sollte sich dringend klar werden, in welche Richtung die europäische Reise eigentlich gehen soll.

Der gegenwärtige Status Quo der Halbheiten, in dem die EU als Zwitter zwischen Staatenbund und Bundesstaat steckt, ist brüchig. Das Misstrauen zwischen den Staaten wächst. Nationalistische Reflexe nehmen auch in der politischen Mitte zu, wenn Frankreichs Konservative rund um die Einwanderungspolitik Schengen kritisieren oder Österreichs Sozialdemokraten wegen der TTIP-Verhandlungen mit den USA die Außenhandelskompetenz der EU in Frage stellen.

Die Europäer werden sich über kurz oder lang entscheiden müssen, ob sie einen Rückfall in nationale Kleinstaaterei riskieren wollen oder doch den Sprung in Richtung eines Europäischen Bundesstaates wagen. Von der Antwort wird es abhängen, wie lange der alte Kontinent in der globalisierten Welt des 21.Jahrhunderts noch ernst genommen wird. Auf diese Weichenstellung sollten sich auch die Österreicher einstellen.