Warum 2017 zur Nagelprobe für Europa wird

Von Europas Klimazielen, die der Herbstgipfel der Europäischen Union festgelegt hat, ist in der britischen Presse wenig zu lesen. Die Öffentlichkeit des Vereinigten Königreichs tobt über eine Brüsseler Nachtragsforderung von 2,1 Milliarden Euro für das EU-Budget. David Cameron ließ den Gipfel unterbrechen um seinen Protest zu deponieren. Vor der Presse gab er sich hellauf empört. Die für 1.Dezember ausgestellte Rechnung werde London nicht begleichen.

Politisch ist die Causa hochexplosiv. Im Frühjahr wird in Großbritannien gewählt. Die populistische Anti-EU-Partei UKIP befindet sich im Aufwind. Die Austrittstendenzen werden befeuert.

Sachlich verbirgt sich hinter der Nebelwand der Empörung ein Wust von Fehlinformationen. Alle Daten, mit denen das europäische Statistikamt die EU-Beiträge der Staaten berechnet, kommen aus den nationalen Hauptstädten. London hat sein Bruttonationalprodukt jahrelang unterbewertet und zu geringe Summen überwiesen. Das Land ist reicher, als es sich dargestellt hat.

Schließlich haben sich die Statistiker auf eine gemeinsame Berechnungsmethode geeinigt. Die Korrektur läuft wie ein Autopilot, dessen politische Folgen im Beamtenapparat der EU aber niemand erkannt hat. Genauso wenig wie im Finanzministerium in London, das informiert war.

Im Fall eines Wahlsieges im nächsten Frühjahr haben die Konservativen für 2017 ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU versprochen. Mit jedem neuen Eklat rückt die Möglichkeit einer verheerenden Scheidung näher. Europa ohne das Land der Magna Charta, ohne die Heimat der Rolling Stones und ohne den Ursprung der Lingua franca Englisch, wer will sich das vorstellen?

Auch auf der anderen Seite des Kanals, in Frankreich, wächst die innenpolitische Dramatik. Die regierende Sozialistische Partei steht vor der Spaltung. 40 sozialistische „Frondeure“ in der Nationalversammlung verweigern Präsident Hollande die Gefolgschaft. Der frühere Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg, ein linker Nationalist, führt die Rebellion. Eine „Gefahr für die Republik“ sehen die innerparteilichen Gegner in den wirtschaftsfreundlichen Plänen des Präsidenten.

Hollande, einst die Hoffnung der europäischen Linken, ist zwar noch bis 2017 im Amt. Aber bei den Sozialisten hat der Kampf um die Nach-Hollande-Zeit begonnen. Premierminister Manuel Valls will unternehmerfreundliche Reformen nach dem Vorbild Gerhard Schröders. Dazu muss er den Arbeitsmarkt revolutionieren, dessen strenge Regeln Entlassungen fast unmöglich machen. Die französische SP will Valls als Partei der Mitte neu begründen. Das „sozialistisch“ würde er am liebsten streichen. Traditionsbewusste Linke toben.

Brüssel gießt Öl ins Feuer, denn die Budgets in Paris weichen von der versprochenen Konsolidierung ab. Der verschärfte Stabilitätspakt lässt dem Währungskommissar keine andere Möglichkeit, als eine Korrektur zu verlangen. Ähnliche Briefe gingen auch an Italien, Österreich, Slowenien und Malta.

Über das französische Budget entscheide Frankreich alleine, ließ Premier Valls wissen. Die Wirklichkeit ist anders. „In der Eurokrise haben wir mehr Kompetenzen an die Unionsorgane übertragen,“ erinnert sich ein hoher EU-Politiker, der an allen Entscheidungen beteiligt war, „Das war eine kollektive Entscheidung. Aber plötzlich sind alle erstaunt und es heißt, das haben wir so nicht gewollt.“

Ob die europäischen Regeln für schlechte Zeiten ausreichend flexibel sind, wird heftig diskutiert. Bei innenpolitischen Turbulenzen dominieren in London, Paris und Berlin nationalistische Reflexe.

Die Kraftprobe mit den Gewerkschaften um Harz IV kostete in Deutschland der SPD die Kanzlerschaft. Der lange Umbau von der eurokommunistischen KPI bis zum Partito Democratico brachte Italien viele Jahre Silvio Berlusconi. In Frankreich wartet Marine Le Pen.

Meinungsfragen geben der Chefin der Nationalen Front gute Chancen 2017 in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zu kommen. Nicht nur die Linke, auch die französischen Rechtsparteien sind heillos zerstritten. Es gibt keine Garantie, dass Frankreichs demokratische Parteien es schaffen werden ihre Kräfte zu bündeln wie 2002, als die linken Wähler für den Konservativen Jacques Chirac stimmten, um Le Pen Vater zu verhindern.

Am 1.November tritt in Brüssel der Luxemburger Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident an. Einen Monat später folgt der Pole Donald Tusk als Ratspräsident. Die neue Führung will einen Neustart für die EU. Vor allem Angela Merkel muss dazu den erforderlichen Spielraum schaffen. Die Milliarden-Forderung an die Briten und die Korrekturen beim französischen Budget lassen sich durch Kompromisse entschärfen. Vorausgesetzt die Regierenden erkennen, dass 2017 zum Ground Zero für die EU zu werden droht, wenn sich bis dann das politische Klima nicht verändert.