Frankreichs Trauer um den linken Vordenker Henri Weber

In Frankreich hat ein prominenter Todesfall durch Covid-19 in der  zerrissenen linken Öffentlichkeit ein Nachdenken über die Widersprüche der eigenen Tradition ausgelöst. Ende April starb in Avignon der sozialistische Intellektuelle Henri Weber. Weber war mit Daniel Cohn-Bendit einer der Köpfe des revolutionären Mai 68 in Paris gewesen. Die Barrikaden des Quartier Latin hielt er für die  Generalprobe zur bevorstehenden Revolution der Arbeiter und Studenten. Der  Ordnungsdienst der trotzkistischen Ligue Communiste, den er  aufbaute, sollte den Umsturz vorbereiten. Fünfzehn Jahre später entschied er sich für den Weg der Reformen. Aus dem charismatischen Spitzenmann der Trotzkisten wurde ein nachdenklicher Sozialdemokrat, Senator und  Europaabgeordneter, der seine radikale Jugend trotzdem nie verleugnet hat. Die Betroffenheit der französischen Öffentlichkeit über den Tod des linken Vordenkers geht weit über die Parteifreunde hinaus.

Ich habe Henri Weber als mitreißenden Redner und Mann der Aktion in Paris, Mailand und Wien erlebt. Als sozialdemokratischer Intellektueller versöhnte er sich mit dem Spruch des reformistischen Urvaters, Eduard Bernstein, wonach die Bewegung alles, das Ziel nichts sei. An Österreich interessierte ihn die institutionelle Stärke der Arbeiterbewegung, festgemacht an Betriebsräten und der Arbeiterkammer. In Brüssel diskutierten wir die Chancen einer europäischen Sozialpolitik.

Die Sozialisten in Frankreich waren vor ihrer gegenwärtigen Zersplitterung zwar genauso staatstragend wie im Rest Europas, trotzdem aber weniger brav als ihre Genossinnen und Genossen in Deutschland oder Österreich. Unsere Sozialdemokraten saßen in Gremien, die Franzosen demonstrierten auf der Straße. Für Daniel Cohn-Bendit war eine Annäherung an die SPD undenkbar, Danny le Rouge wurde Grüner. Nach dem leisen Abschied vom Linksradikalismus fand Henri Weber im Kreis des jugendlichen Premiers Laurent Fabius den Zugang zur französischen Staatspolitik.

Die jüdische Familie Weber kommt aus Polen. Die Eltern sind in einem Dorf wenige Kilometer von Ausschwitz aufgewachsen. Als Polen geteilt wurde und die Wehrmacht einmarschierte, entschieden sie sich zur Flucht in die Sowjetunion. Aber Sowjetbürger wollte der Vater nicht werden. Die Deportation nach Sibirien war die Folge. Schließlich erreichten die Eltern eine Überstellung in ein Arbeitslager der zentralasiatische Sowjetrepublik Tadschikistan. Henri wird im Gulag in der Stadt Leninabad geboren. Ich bin eigentlich ein Tadschike, pflegte er zu scherzen.

Aus dem befreiten Polen nach 1945 vertreibt der mörderische Antisemitismus die Familie nach Frankreich. Der Vater ist Uhrmacher, Linker, Antistalinist. Henri Weber wächst als aufmüpfiger Jugendlicher in Paris auf. Er engagiert sich in der  jüdischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair und solidarisiert sich mit der algerischen Revolution. Das politische Engagement führt ihn zu den kommunistischen Studenten, die ihm allerdings zu angepasst waren. Henri Weber, der aufgeweckte Sohn aus der Familie des polnisch-jüdischen Uhrmachers mit Erfahrung im sowjetischen Gulag, wird zu einem Gesicht der Jugendradikalisierung der 1960er-Jahre.   Und schließlich zum intellektuellen Verbindungsglied zwischen Generationen und Strömungen der Linken.

Die europäische Sozialdemokratie, in der sich Henri Weber eingerichtet hat, ist in Auflösung. Nur mehr über die lose Verbindung ihrer Abgeordneten im Europäischen Parlament haben portugiesische und deutsche, schwedische, österreichische oder rumänische Sozialdemokraten miteinander zu tun.

Die SPÖ erinnert an ihren Neubeginn 1945 und die Gründung durch Victor Adler und seine Mitstreiter in der Monarchie vor mehr als 130 Jahren. Wie diese Tradition Bestand hat, kann niemand vorhersagen. Soziale Gegensätze werden tiefer in unseren Breitengraden, politisch driften die Nationen auseinander. Aber die Gesellschaften wachsen zusammen. In Europas Schulen lernen heute mehr Jugendliche aus Einwandererfamilien als zur Zeit, als der Schüler Henri Weber die Lehrer am Pariser Lycee  Jacques-Decour mit seinen aufmüpfigen Fragen traktierte. Die Grundidee, dass es  Gerechtigkeit für sozial Schwache geben muss, ist in Europa stark verankert. Den Mai 68, der ihn so stark geprägt hat, hat Henri Weber im Rückblick vor allem als kulturelle Revolution interpretiert, die tiefgreifende soziale Reformen möglich gemacht hat.

Politische Bewegungen, egal welcher Provenienz, die gegen soziale Spaltung ankämpfen, sollten für die rebellischen Traditionen jeder Generation offen sein. Nicht zufällig war es der Philosoph Michael Foucault, der Henri Weber an die Universität Vincennes gebracht hat. Vielleicht erklärt die Nachfrage nach einem vielfältigen Ideengebäude für die neue Zeit die Emotionen beim Covid-19 Tod des französischen Sozialismusgelehrten Henri Weber.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*