EU beim Abklingen der Eurokrise: "Winkelzüge und Ränkespiele", IPG-Journal, Mai 2014

„Winkelzüge und Ränkespiele“

Hinter dem Vorhang des europäischen Gipfelmarathons: Ein Politkrimi.

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Dringen kaum an die Öffentlichkeit: Die höchst vertraulichen Gipfelprotokolle der sogenannten Antici-Gruppe.

Vertrauliche Protokolle zeigen, wie Europa sich durch die Krise verhandelte. Notwendige Entscheidungen über verstärkte Kooperation scheiterten aber an nahezu unüberwindbaren politischen Blockaden – und wurden damit auf die Zeit nach der anstehenden Europawahl vertagt.

Die europäische Rettungs- und Reformpolitik seit Beginn der Krise Ende 2009 ähnelt in vielerlei Hinsicht einem politischen Versteckspiel, einem stetigen, oft vertraulichen Hin und Her zwischen Treffen, Gipfeln und Arbeitsessen in Brüssel, Berlin, Paris, London, Frankfurt, Rom. Meist dringt nahezu ausschließlich das nach außen, was die Politiker möchten: Offiziell verhandelte Abschlussdokumente, einvernehmliche Sprachregelungen auf Pressekonferenzen – höchstens ab und zu ein nationaler Querschuss, ein pikantes Detail aus den Verhandlungen, das an die Presse gelangt.

Was jedoch kaum an die Öffentlichkeit dringt, sind die höchst vertraulichen, offiziellen Gipfelprotokolle, die von der sogenannten Antici-Gruppe auch bei nächtlichen Marathon-Sitzungen angefertigt werden und ausschließlich für den internen Gebrauch bestimmt sind. Die erstmalige Einsicht in diese Dokumente zeichnet ein hochspannendes Bild vom europäischen Politkrimi rund um die Eurokrise. Die Liste der Knack- und Wendepunkte, der taktischen Winkelzüge und politischen Ränkespiele ist lang und wirft ein neues Licht auf die schlussendlich verabschiedeten Institutionen und Politiken. Zwei wichtige Momente, in denen Schlüsselaspekte der Krisenpolitik entschieden wurden, zeigen beispielhaft, wie es beim europäischen Gipfelmarathon tatsächlich abgelaufen ist: Reformmüdigkeit und politische Blockaden haben die wichtigen Entscheidungen über die europäische Zukunft auf die Zeit nach der Europawahl am 25. Mai vertagt.

Die europäische Achse

Im Oktober 2011 begrüßte die Bild-Zeitung auf Seite eins den neuen Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, mit einer Fotomontage, die ihn mit einer deutschen Pickelhaube zeigt. Weil er so hart rechnet, gilt er als preußischer Italiener. Die Montage soll dazu beitragen, die Ressentiments deutscher Politiker und Bürger gegen einen Italiener an der Spitze der wichtigsten Finanzinstitution Europas abzubauen. Dies ist auch notwendig, denn: Es ist die Achse zwischen dem italienischen EZB-Chef und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die in der Finanzkrise hilft, die Angriffe auf den Euro abzuwehren.

„Innerhalb unseres Mandats sind wir bereit, alles zu tun, um den Euro zu schützen.“

Im Juli 2012 kündigt Draghi vor einem Forum von Finanzexperten der Londoner City die Wende bei der Verteidigung der europäischen Währung an. Es sind die sechs wichtigsten Worte der Eurokrise: „Believe me, it will be enough.“ Gemeint sind die Mittel, die die EZB zur Verteidigung des Euro gegen die internationale Spekulation bereitstellen will. Ganz bewusst leitet Draghi die Beruhigung der Eurokrise in der Finanzmetropole London ein. Er versichert den Spitzenbankern: „Innerhalb unseres Mandats sind wir bereit, alles zu tun, um den Euro zu schützen.“

Die City glaubt dem EZB-Chef. Die Drohung alleine reicht. Tatsächlich wahrmachen muss Draghi seine Ankündigung nicht. Die Eurokrise ebbt ab. Dahinter steckt ein kompliziertes politisches Versteckspiel zwischen London, Frankfurt, Brüssel und Berlin. Die EZB ist politisch unabhängig, aber sie agiert nicht im luftleeren Raum. Draghi weiß, dass Angela Merkel ihn deckt. Nur die Rückendeckung der mächtigsten Politikerin der Europäischen Union erlaubt es dem EZB-Chef, zur Rettung des Euro auszurücken. Denn die Deutsche Bundesbank ist strikt gegen das Programm der Outright Monetary Transactions (OMT), das der EZB die technische Möglichkeit schafft, im Notfall Staatsanleihen von Eurostaaten aufzukaufen.

Wer soll die Rechnung zahlen?

Merkels politische Absicherung gegen die Einwände der deutschen Hardliner sind der harte Kurs der Troika gegenüber den Schuldnerländern, der Fiskalpakt und die anderen Regeln zur verschärften Finanzkontrolle, die sie in den Krisenjahren in der EU durchgesetzt hat.

Seit die Währung sich stabilisiert hat, beginnt die Achse zwischen Merkel und Draghi jedoch zu bröckeln. Die wachsenden Störungen zwischen den beiden erleben die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel im Juni 2013, ziemlich genau ein Jahr nach der Ankündigung der unbegrenzten Unterstützung für den Euro in London.

Die vertraulichen Antici-Protokolle, belegen, wie erfolglos der EZB-Chef bei Merkel für europäische Finanzgarantien wirbt, bevor die Europäische Zentralbank im Herbst 2014 endgültig die Aufsicht über die Banken der Euroländer übernimmt. Draghi weiß um die Furcht vieler Banker, dass ihre Bücher von den europäischen Prüfern schlechter bewertet werden als von den vertrauten nationalen Aufpassern. Um Unsicherheiten zu vermeiden, schlägt er vor, dass sich die Regierungschefs auf sogenannte „Backstops“ einigen.

Mit „Backstops“ sind finanzielle Auffangnetze gemeint, für den Fall, dass Banken ins Straucheln geraten. Braucht ein Institut dringend neue Mittel, dann sind zuerst die Aktionäre dafür verantwortlich, das fehlende Kapital zuzuschießen. Lassen sich Finanzlöcher nicht anders stopfen, sind in der Vergangenheit die Nationalstaaten für die Banken eingesprungen. Sie waren die Letztsicherung, der nationale Backstop, für den Fall, dass bei Bankenkrisen alle Stricke reißen. Damit in solchen Fällen nicht mehr die Steuerzahler zur Kasse gebeten werden, wollen die Staaten in den nächsten acht Jahren eigene Bankenabwicklungsfonds aus Abgaben des Finanzsektors aufbauen.

Beim EU-Gipfel im Juni 2013 sucht Draghi nun eine Antwort auf die Frage, was passiert, solange die Bankenrettungsfonds noch nicht funktionieren und die Staaten überfordert sind, wenn eine Großbank implodiert. Springt Europa ein, wenn die Kernschmelze des Finanzsystems droht? Die Erinnerung an den Kollaps von Lehman Brothers 2008 ist noch immer lebendig.

Die „Backstops“ stehen plötzlich im Mittelpunkt der Gipfeldiskussion. Merkel lehnt Draghis Vorschlag ab. Sie möchte verhindern, dass die anderen Staatschefs den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) schon vor der Installierung der zentralen Aufsicht durch die EZB als letzte Rettung für Bankenunfälle betrachten. Merkel hält die deutschen Banken für ausreichend abgesichert. Draghi geht es darum, für die unsichere Phase des Übergangs von der nationalen Aufsicht zur Kontrolle durch die EZB alle europäischen Instrumente in Stellung zu bringen.

Springt Europa ein, wenn die Kernschmelze des Finanzsystems droht? Die Erinnerung an den Kollaps von Lehman Brothers 2008 ist noch immer lebendig.

Die „Backstops würden wohl ohnehin nicht gebraucht werden“, zitieren die Protokollanten den EZB-Chef, „sie seien eine ultima ratio, aber die Märkte müssten wissen, dass es sie für alle Fälle gibt.“ In den Gipfelschlussfolgerungen sollen die Eurostaaten versprechen, dass sie „geeignete Letztsicherungen“ („appropriate backstops“) vor den Stresstests einführen.

Merkel widerspricht: „Eine indirekte Referenz auf ESM-Rekapitalisierung müsse verhindert werden. Daher könne man nur von ‚national‘ backstops sprechen.“ Draghi will nicht nachgeben und verweist darauf, dass Spanien zur Rekapitalisierung seiner Banken bereits Geld aus dem ESM erhalten hat. „Man solle daher nicht nur von national backstops sprechen, sondern auch das spanische Modell anführen.“ Die spanischen Banken haben tatsächlich 41,33 Milliarden Euro aus dem ESM erhalten, allerdings nicht direkt, sondern über den Umweg des spanischen Staates, der für das Geld garantiert.

Der Disput zwischen dem EZB-Chef und der deutschen Kanzlerin geht weiter, denn Merkel lässt sich nicht umstimmen. Im Wahlkampfjahr 2013 will die Kanzlerin jede Andeutung vermeiden, dass der ESM, in dem auch deutsche Steuergelder stecken, zur Hilfe von Banken verwendet werden könnte. Draghi hat die unsichere Lage der Banken in den südlichen Ländern im Auge und hofft, durch ein grundsätzliches Bekenntnis zur gegenseitigen Hilfe der Gefahr einer Destabilisierung zu begegnen.

Hinter den beiden Protagonisten sammeln sich Unterstützergruppen. Der Niederländer Mark Rutte ist auf Merkels Seite und lehnt einen Hinweis auf „Backstops“ ab. Portugals Passo Coelho, Belgiens Elio Di Rupo, Italiens Enrico Letta, sie alle unterstützen den EZB-Präsidenten. Di Rupo droht sogar, die belgischen Zahlungen an den ESM zu verschieben, solange „die direkte ESM-Rekapitalisierung noch nicht funktioniert“.

Frankreichs François Hollande lässt Sympathien für die Südländer erkennen, legt sich aber inhaltlich nicht fest. Es sei klar dargelegt, dass es die Mitgliedstaaten seien, die die Maßnahmen treffen, zitieren die Antici-Protokollanten den französischen Präsidenten. „Das müsste die Vorbehalte Merkels doch ansprechen.“

Noch einmal warnt Draghi: „Sollte es keine Referenz zu backstops im Text geben, würde die Öffentlichkeit glauben, dass es keine geben werde. Dies würde Unsicherheit schaffen.“ Hollandes Hinweis ermöglicht den Ausweg. Merkel und Draghi akzeptieren beide, dass von „nationalen backstops“ die Rede ist. Etwas resigniert das Schlusswort von EZB-Präsident Draghi: „Ok, dann eben national backstops.“ Wenn diese nicht ausreichend seien, könne man für ein volles ESM-Programm optieren. Der ESM würde das Geld dann an den Mitgliedstaat geben, der es an die Bank weitergeben würde. Zu diesen „nationalen Letztsicherungen“ in der Übergangsphase, bevor die EZB die Bankaufsicht übernimmt, bekennen sich schließlich alle Eurostaaten.

Merkels Reformverträge und die Eurokrisenmüdigkeit

Fünf Jahre nach dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise ist in Europa eine äußerst brüchige Stabilität eingekehrt. Die Berg- und Talfahrt der Krisenjahre ist noch nicht zu Ende. Ein Grund dafür ist, dass alle Diskussionen über eine verstärkte politische Integration der Eurozone vorerst gestoppt sind. Ende 2012 hatte Ratspräsident Herman van Rompuy zwar die Bildung eines eigenen Eurobudgets vorgeschlagen. Vertiefte Gespräche dazu kamen jedoch nicht in Gang.

Im Herbst 2013 nimmt Angela Merkel die Debatte darüber wieder auf. Sie plädiert für eine verstärkte wirtschaftspolitische Zusammenarbeit, die durch Reformverträge zwischen Mitgliedstaaten und Kommission konkrete Gestalt annehmen sollte. Finanzielle Belohnung bei erfüllten Reformbedingungen sollten den Vorschlag für die Vertragsländer attraktiver machen. Es ist die deutsche Antwort auf ein europäisches Problem: Wie können 18 Euro-Staaten, die eine Währung teilen, dazu gebracht werden, die Wirtschaftspolitik abzustimmen, wenn sie alle auf ihrer Souveränität bestehen und zugleich um nationale Wettbewerbsvorteile ringen?

Die überwiegende Mehrheit der europäischen Regierungschefs will offensichtlich so weitermachen wie bisher und von Reformen nichts mehr hören.

Auf dem Dezembergipfel 2013 wird der Plan einer über Reformverträge gesteuerten gemeinsamen Wirtschaftspolitik vorläufig begraben. Angela Merkel stößt mit ihrer Idee auf derart breiten Widerstand, dass die Staats- und Regierungschefs die gesamte Reformdiskussion auf die Zeit nach den Europawahlen verschieben. „Le Monde“-Korrespondent Philippe Ricard zeichnet die zähe Diskussion des späten Dezemberabends anhand einer Mitschrift nach. Die vertraulichen Protokolle zeigen: die Chefs sind entscheidungsunfähig. „Es gibt jene, die keine zusätzliche Disziplin wollen und Angst vor zwingenden Vorgaben haben“, fasst der französische Präsident Hollande die verfahrene Situation zusammen, „und andere, die nicht zahlen wollen.“ Die überwiegende Mehrheit will offensichtlich so weitermachen wie bisher und von Reformen nichts mehr hören.

Für Angela Merkel, aber auch für Kommissionspräsident Barroso und Van Rompuy, die das deutsche Konzept unterstützen, ist es ein schwerer Rückschlag. Das große Problem dabei: Keiner der Kritiker hat einen anderen Vorschlag parat, wie die Europäische Union repariert werden soll. Die deutsche Kanzlerin greift zu drastischen Vergleichen. Sie erzählt vom Bestseller des Cambridge-Professors Christopher Clark, der in seinem Buch „Die Schlafwandler“ beschreibt, wie Europa in den Ersten Weltkrieg rutschte. Auch an den Untergang der DDR, die so viel versprochen und nichts gehalten hat, erinnert die Kanzlerin die Kollegen. „Früher oder später wird die Währung ohne den erforderlichen Zusammenhalt platzen.“ Aber wie dieser Zusammenhalt erreicht werden kann, wenn alle blockieren, ist unklar.

Ein Aufschub, keine Lösung

Ende 2013 sind die Staats- und Regierungschefs sichtlich am Ende ihres Lateins. Erst im Oktober 2014 wollen sie wieder über eine Generalüberholung der EU diskutieren. Dann gibt es ein neues Europaparlament und eine neue Führungsmannschaft in der EU.

Weil die Idee von zwischenstaatlichen Reformverträgen als Synonym für eine von Europa vorgegebene Austeritätspolitik festgeschrieben ist, wird sie kaum zu neuem Leben zu erwecken sein. Dagegen könnte die Forderung nach einem Konvent, der eine Vertragsveränderung vorbereitet, lauter werden. Eine Grundsatzdiskussion darüber, wie Europa in die Zukunft gehen soll, wäre politisch ehrlicher als komplizierte Deals zwischen Regierungen und Kommission über Geldspritzen und Reformen, die für die Bürger nicht nachvollziehbar sind.

Der vorliegende Text basiert auf Recherchen für das Buch „Europas Strippenzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert“ von Cerstin Gammelin und Raimund Löw, erschienen 2014 im Econ Verlag. Eine Version dieses Textes erschien auch in der österreichischen „Presse am Sonntag“.