Der türkische Angriff gegen die Kurden in Nordsyrien, ORF, 10.10.2019

Seit gestern läuft eine türkische Militäroffensive gegen die Kurdengebiete in Nordsyrien. Eigentlich ist der syrische Bürgerkrieg fast zu Ende. Das Assad-Regime in Damaskus hat sich weitgehend durchgesetzt. Jetzt schafft der Angriff der Türkei neue Unsicherheit auszulösen. Was waren die entscheidenden Gründe für die Türkei einzumarschieren? Handelt sich Erdogan damit nicht zusätzliche Probleme ein?
Die Offensive läuft. Es gibt Angriffe durch die türkische Luftwaffe. Unklar ist, wie weit schon am Boden gekämpft wird. Wobei an der Grenze nicht nur türkische Streitkräfte stehen, sondern auch protürkische syrische Milizen, die mit den Kurden verfeindet sind. Es gibt viele Flüchtlinge. Da muss man abwarten, wie groß die Operation wirklich ist.
Jetzt steigt auf jeden Fall wieder Unsicherheit in der Region.
Vor allem wenn sich die syrischen Streitkräfte des Assad Regimes einschalten, wird es für die Türken schwierig. Denn Assad ist ja mit Russland verbündet.
Entscheidend für die Türkei ist, dass sich in Nordsyrien über die Jahre eine kurdische Verwaltung etabliert hat. Die ist den Türken schon lange ein Dorn im Auge. Die Kurden in Syrien sind mit der PKK in der Türkei verbunden, die vom Westen als terroristische Organisation angesehen wird.
Aber im Fall Syrien sind die kurdischen Milizen Verbündete der USA geworden. Weil sie heroisch gegen den IS gekämpft haben, den Islamischen Staat, da hat es tausende Tote gegeben. Die Amerikaner haben den Kurden Waffen gegeben und auch viel Geld. In Ankara hat man die Angst gehabt, dass von diesem Kurdengebiet aus sich auch ein Guerillakrieg gegen die Türkei ausweiten wird. Das will man unterbinden.
Verkauft wird dieser Angriff der eigenen Bevölkerung als ein Schritt, um ein Territorium zu schaffen, auf dem syrische Flüchtlinge angesiedelt werden können. Es ist aber sehr fraglich, ob das möglich ist.
Ermöglicht wurde der türkische Angriff durch eine Entscheidung von US-Präsident Trump. Trump hat den Rückzug der amerikanischen Militärs aus dem Nordirak befohlen, wo die USA mit kurdischen Milizen verbündet sind. Erst dadurch hat Erdogan freie Hand bekommen. Warum will Trump die amerikanischen Militärs abziehen?
Die Amerikaner in Nordsyrien haben den Kurden geholfen, mit Waffen, auch mit Informationen, weil es gegen den IS gegangen ist, die Terrormiliz. Das waren aber nur einige hundert Leute, man weiß es nicht genau. Das war militärisch von Bedeutung, aber vor allem symbolisch wichtig. Denn solange die Amerikaner da waren, konnte die Türkei als NATO-Land keinen großen Angriff durchführen.
Es gibt nur mehr wenige amerikanische Militärs im Nordirak, ein paar hundert, man weiß es nicht genau. Die USA haben im syrischen Bürgerkrieg zwar immer Partei ergriffen, für die Opposition gegen das Assad Regime, aber ernsthaft eingegriffen haben sie nicht.
Trump hat seinen Anhängern versprochen, dass sich die USA international zurückziehen werden. Dieses Versprechen will er einhalten, bevor der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf des nächsten Jahres ernsthaft einsetzt.
Dazu ist der massive Druck des türkischen Präsidenten Erdogan. Erdogan ist ein wichtiger Partner Trumps und er war empört, dass die USA sich an der Grenze zur Türkei mit einer kurdischen Miliz verbündet haben, nur weil der Kampf gegen den IS wichtiger war.
Allerdings: dass Trump die kurdischen amerikanischen Verbündeten jetzt aufgibt, das schafft im innenpolitisch große Probleme. Kritiker sprechen von Verrat an engen Verbündeten, und diese Kritiker gibt es nicht nur bei den Trump Gegnern, sondern auch in der eigenen republikanischen Partei.
Gibt es dort noch die Terrormiliz Islamischer Staat? Die frühere Hauptstadt der Dschihadistenmiliz Rakka ist in der Hand der Kurden. Welche Aktivitäten kann die extremistische Miliz noch entwickeln?
Der IS ist im Untergrund, aber verschwunden ist er sichtlich nicht. Aus Rakka, der zerstörten Hauptstadt des früheren sogenannten Kalifats, ist in den letzten Tagen wieder ein IS-Abgriff gemeldet worden. Auch in anderen Teilen der Region, zum Beispiel in Richtung Irak, sind im Untergrund Bewaffnete des IS aktiv. Radikale Dschihadisten haben unter den sunnitischen Arabern Anhänger, das ist nicht zu leugnen.
In Nordsyrien sind viele tausend Anhänger des IS in Gefangenenlagern festgehalten. Männer zumeist getrennt von Frauen und Kindern. Diese Gefangenenlager wurden bisher von den kurdischen Milizen bewacht. Aber wenn die Kurden sich gegen eine türkische Invasorenarmee wehren, dann werden sie kaum viele Kräfte für die Bewachung der Gefangenenlager abstellen.
Man weiß nicht, was passieren wird. Vielleich brechen die IS-Kämpfer aus und es gibt ein Revival des IS. Oder die Türken übernehmen wirklich die Kontrolle.
Oder auch in diese Gebiete stoßen die syrischen Regierungstruppen vor, das kann auch sein. Die Kurden würden die Syrer eher hereinlassen als die Türken. Klar ist; die Unsicherheit steigt jetzt wieder massiv an.
Es gibt auch eine Verbindung zu Österreich. Mehrere Hundert junge Leute sind vor Jahren aus Österreich nach Syrien gefahren, um den IS zu unterstützen. Viele sind umgekommen. Einige Dutzend IS-Kämpfer oder IS-Sympathisanten aus Österreich werden in den Gefangenenlagern festgehalten. Eine Wiener Großmutter hat es vor Kurzem geschafft zwei Enkelkinder nach Wien zu holen. Wie ist das gelungen?
Es ist eine unglaubliche Geschichte. Die Mutter ist als Teenager aus Wien in das sogenannte Kalifat gezogen, das vom IS kontrollierte Gebiet. Zwei Kinder hat sie dort geboren. Wie der IS-Staat militärisch besiegt wurde, ist das chaotisch zugegangen.
Die Großeltern aus Wien haben begonnen nach der Tochter und den Enkeln zu suchen. Die Großmutter ist dort hingefahren, in das Gefangenenlager des IS, mit einem österreichischen Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger, der gute Kontakte zu den Kurden hat.
Im Lager haben sie die Fotos der Enkelkinder herumgezeigt, und unter 70 000 Leuten sind die Kinder von den Kurden gefunden worden.
Österreich hat einen Gentest verlangt, um die überprüfen, ob der Dreijährig und der Eineinhalbjährige auch die Richtigen sind. Wie das gelungen ist, sind die Kinder mit Unterstützung des Außenministeriums nach Wien zu den Großeltern gebracht worden.
Die Mutter der beiden Kleinkinder ist möglicherweise umgekommen, ganz sicher ist das nicht.
Noch einen zweiten Fall gibt es, wo Großeltern aus Salzburg versuchen ihre Enkelkinder nach Österreich zu bringen. Aber da ist es bisher nicht gelungen DNA-Tests durchzuführen. Und ob das nach dem Beginn der türkischen Offensive noch möglich ist, ist unklar.

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