Schock für Erdogan bei den Kommunalwahlen in der Türkei, ORF, 4.4.2019

 

Die türkische Regierungspartei hat bei den Kommunalwahlen von letzten Wochenende drastische Rückschläge hinnehmen müssen. Die islamistische AKP Partei hat die Mehrheit in der Hauptstadt Ankara und nach bisherigem Stand auch in Istanbul verloren. Wie groß ist der Rückschlag für den selbstbewussten türkischen Präsidenten Erdogan?
Für Erdogan ist das ein ziemlicher Schock. Man darf nicht vergessen: Ankara und Istanbul sind Riesenstädte, sie machen 30 Prozent der Bevölkerung der gesamten Türkei aus. Allein in Istanbul mit 15 Millionen Einwohnern wird ein Drittel der ganzen Wirtschaftsleistung des Landes erwirtschaftet.
Istanbul ist auch politisch ungeheuer wichtig. Erdogan, der Präsident, hat von hier aus als Bürgermeister seinen politischen Siegeszug begonnen. Die Stadtverwaltung ist eine Maschinerie, um ein ganzes Netzwerk von Firmen und Personen, die Erdogan ergeben sind, zu finanzieren.
Bemerkenswert ist der Erfolg der Opposition auch deshalb, weil er passiert ist, obwohl die Regierungspartei 90 Prozent der Medien unter Kontrolle hat. Die Zeitungen, das Fernsehen, das Radio, sie haben ausschließlich für die AKP Erdogans Werbung betrieben. Der ORF-Korrespondent Jörg Winter in Istanbul hat mir gesagt, wenn er durch die Straßen gegangen ist, hat man den Eindruck gehabt es gibt nur den Regierungskandidaten.
Trotzdem hat der verloren, die Opposition hat gewonnen. Das ist ein Zeichen, die Türkei ist noch keine Diktatur. Es gibt eine lebendige Opposition, es gibt einen Spielraum für demokratische Kräfte. Das sollten die Europäer nicht vergessen, wenn sie diskutieren, ob sie der Türkei völlig die Tür zuschlagen. Diese demokratischen Oppositionellen sollte Europa nicht im Stich lassen.
In Istanbul und Ankara wird nachgezählt, kann sich die Situation noch drehen?
Die Regierungspartei versucht das Ruder noch herumzuwerfen, keine Frage.
Vor allem in Istanbul ist der Vorsprung der Opposition total knapp. Das sind ein paar tausend Stimmen. Nicht nur die Opposition, auch der Regierungskandidat sagt, dass er gewonnen hat und lässt die Stadt mit Siegesplakaten pflastern.
In Ankara wäre es schwieriger, das Resultat umzudrehen. Da ist der Unterschied viel größer. Aber bis zum amtlichen Endergebnis herrscht Hochspannung. Ausgeschlossen ist gar nichts.
Wie ist das Ergebnis zu erklären und spielt tatschlich auch Aussenpolitik eine Rolle?
Die Außenpolitik spielt in Kommunalwahlen eine untergeordnete Rolle. Aber es herrscht Unsicherheit. Die große Frage ist, ob die Türkei mit den USA bricht und mit der NATO bricht und ob sich Erdogan ernsthaft mit Putin verbündet. Da steht es Spitz auf Knopf.
Entscheidend für das Wahlergebnis war die verschlechterte Wirtschaftslage in der Türkei. Erdogan ist jetzt mehr als 15 Jahre an der Macht und in der Zeit ist es wahnsinnig viel besser geworden in der Türkei. Es ist aufwärts gegangen. Viele Ärmere vom Land und nicht nur sie, leben viel besser als früher. Aber diese Aufwärtsentwicklung ist abgebrochen. Die Arbeitslosigkeit steigt. Die Lira, die türkische Währung hat massiv verloren. Und diese große wirtschaftliche Unsicherheit wird jetzt auf die Politik Erdogans zurückgeführt.
Dazu kommt: Erdogan verteufelt alle Kritiker in einer Weise, wie das bisher nicht üblich war. Jeder Oppositionelle wird denunziert, als Terrorist, als jemand, der an irgendwelchen Verschwörungen gegen die Türkei beteiligt ist. Die Leute haben von dieser permanenten Hetze genug gehabt.
Der jetzt erfolgreiche oppositionelle Bürgermeisterkandidat in Istanbul ist ein total ruhiger, sachlicher Politiker, der nicht dauernd herumschreit. Das ist besser angekommen, als die sich überschlagende Regierungspropaganda, die alles verteufelt, was nicht 100 Prozent Erdogan ist.
Wer steht hinter der Opposition und welche Möglichkeiten wird sie haben?
Erfolgreich in Istanbul und Ankara war die CHP, die Republikanische Volkspartei, das ist die Hauptpartei der Opposition, die sozialdemokratische, linke Partei, die in der kemalistischen Tradition steht, weil sie einst von Kemal Atatürk gegründet wurde. Das ist eine Partei, die total gegen den konservativen Islamismus von Erdogan steht, die aber sehr wohl türkisch- nationalistisch.
Erfolgreich war ebenfalls die linksliberale, von Kurden getragene Sammelpartei HDP. Diese Kurdenpartei hat in den Kurdengebieten klug agiert. Sie hat aber gleichzeitig in anderen Städte gar keine eigenen Kandidaten aufgestellt. Das hat der sozialdemokratischen Opposition geholfen, die von vielen Kurden gewählt wurde, aber selbst gar nicht kurdenfreundlich ist.
Man darf natürlich nicht vergessen. Erdogan hat in den großen Städten verloren, aber im ganzen Land gesehen ist seine Partei immer noch vorne. Am Land und in den kleineren Städten.
Als Präsident ist er noch viereinhalb Jahre im Amt, in diesen viereinhalb Jahren wird es keine Wahlen mehr geben.
Erdogan hat einen beträchtlichen Rückschlag erlitten. Aber es ist weiter mit ihm zu rechnen.
Wie wird denn Erdogan auf diese Situation reagieren, dass es in so vielen Großstädten seine Gegner regieren?
Das ist eine neue Situation und die große Sorge ist natürlich, dass Erdogan das nicht akzeptieren wird und mit allen Mitteln versuchen wird, die oppositionellen Bürgermeister niederzumachen.
Es gibt zwei Möglichkeiten. Erdogan ist ja Präsident, mit unglaublichen Vollmachten. Er kann diese Vollmachten so einsetzen, dass auch die oppositionell geführten Stadtverwaltungen ihren Platz haben. Oder die Zentralregierung kann die kurdischen oder sozialdemokratischen Bürgermeister als Terroristen denunzieren, und ein permanentes Klima der Angst und der Polarisierung aufrecht erhalten.
Eine Frage, die sich neuerlich stellt ist, ob alle AKP-Politiker einen solchen Kurs auf die Dauer mitmachen, wenn er nicht mehr erfolgreich ist. Immer wieder ist in der Türkei davon die Rede, dass sich gemäßigt konservative Kräfte selbstbändig machen könnten und eine eigene Partei gründen könnten. Über das Niveau der Gerüchte ist das bisher nie hinaus gegangen, aber leiser werden diese Überlegungen nach diesem massiven Rückschlag sicher nicht werden.
Das ist auch für die Europäer relevant: die Türkei besteht nicht nur aus Erdogan, es wird auch eine Post-Erdogan-Zeit einmal kommen.

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