Putin, Nawalny und Belarus, 26.8.2020

Wer Alexej Nawalny vergiftet haben könnte ist unklar. Die klinischen Befunde der Berliner Charite weisen auf einen in mehreren Labortests festgestellten Giftstoff hin. Unter massiver Polizeipräsenz hatten die russischen Mediziner den Verdacht der Familie vorschnell bezweifelt. Der lebensgefährliche Zusammenbruch des populären Antikorruptionskämpfers ist für Russland ein Schock in einer Phase der Verunsicherung. Nawalny verkörpert die Wut der russischen Zivilgesellschaft über Willkür und Misswirtschaft. In der fernöstlichen Stadt Chabarowsk demonstrieren Bürger gegen die Absetzung eines populären Gouverneurs. In Belarus, an der Westgrenze Russlands, herrscht Revolution gegen den Putin-Verbündeten Lukaschenko. Der Verdacht eines Anschlages gegen den furchtlosen Aufdecker Nawalny bringt den Kreml in die Defensive.
Seit Killer vor fünf Jahren den liberalen Oppositionsführer Boris Nemzow erschossen haben, ist Alexej Nawalny der wichtigste Gegenspieler für Wladimir Putin. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen wurde er nicht zugelassen. Seither baut Nawalny einen Fonds zur Korruptionsbekämpfung auf, der das Establishment mit Videos auf Youtube zur Weißglut bringt. Die Vermutung eines Anschlags gegen den populären Aktivisten erinnert an die lange Reihe von Gegnern des Präsidenten, die vergiftet oder erschossen wurden. Zuletzt war in Berlin ein exilierter Kaukasus-Kämpfer ermordet worden. Die deutsche Justiz verdächtigt den russischen Geheimdienst.
Es ist bedrückende Realität: tödliche Gewalt gegen Oppositionelle ist Teil des Herrschaftssystems in Russland. Den Bewunderern Putins im Westen, von Donald Trump in Washington DC bis zu den Le Pens, Straches und Salvinis in Europa, war das immer egal. Die Ausreise des im Koma liegenden Nawalny nach Berlin ist ein Zugeständnis an die Zivilgesellschaft, die an keine ehrliche Behandlung unter dem Druck der Polizei in einem sibirischen Spital glaubt.
Wie das Misstrauen der Gesellschaft in Revolte umschlägt, können die Machthaber in Moskau beim kleinen Bruder Weißrussland beobachten. Klar, der Kreml kontrolliert ein Territorium mit elf Zeitzone. Geschichte, Kultur und Atomwaffen machen Russland zur Weltmacht. Belarus, wie die ehemalige Weißrussische Sowjetrepublik amtlich heißt, ist ein von Moskau abhängiger Kleinstaat. Die Invasion durchs Hitlers Wehrmacht hatte einem Drittel der Bevölkerung das Leben gekostet. Demokratischen Aktivisten führen ausländische Journalisten zu den Massengräbern, die Stalins Geheimpolizei hinterlassen hat.
Aber die politischen Karrieren von Lukaschenko und Putin weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Der Journalist Vladimir Kara-Murza erinnert, dass beide Machthaber anfangs die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hatten. Lukaschenko setzte sich Mitte der 1990er-Jahren in freien Wahlen durch. Putin erschien nach dem Chaos unter Jelzin als Garant der Stabilität. Die autoritäre Transformation setzte sich in Minks rascher durch als in Moskau. Durch ein Pseudoreferendum ließ Lukaschenko die Verfassung ändern, damit er Präsident auf Lebenszeit werden kann. Im Frühjahr 2020 stimmte das Volk in Russland über ein neues Grundgesetz ab, das es Putin ermöglicht, bis 2036 Präsident zu bleiben. Systeme, in denen kein regulärer Machtwechsel vorgesehen ist, sind strukturell instabil. Putin kann in Minsk beobachten, was dem russischen Regime einmal blühen könnte.
Seit 1994 gewinnt Lukaschenko angeblich alle Wahlen mit 80 Prozent, diesmal war der Betrug zu offenkundig. Bei der weißrussischen Revolution handelt es sich um eine spontane Revolte. Die proeuropäischen Oppositionsgruppen, die aus der Weißrussischen Volksfront des demokratischen Umbruchs entstanden sind, sind schwach. Die Allianz um die neue Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja hat außer der Forderung nach freien Wahlen kein Programm. Die vagen Ziele sind Stärke und Schwäche zugleich. Auf die Dauer kann Putin eine echte Liberalisierung beim Nachbarn nicht zulassen. Zu groß wäre die Beispielwirkung für das eigene Volk. Die begrenzten Ziele der tonangebenden Oppositionellen erlauben es Moskau von Dialog für Weißrussland zu sprechen, der in Russland den Regimekritikern um Nawalny verweigert wird.
Sein politisches Engagement hatte Alexej Nawalny einst in der teils linksliberal, teils grün engagierten Partei Jabloko begonnen. Politische Positionen wurden in der Umbruchzeit oft und rasch gewechselt. Nawalny trat als russischer Nationalist auf, er wollte ein nationalistischer Demokrat sein. Der Kampf gegen die Korruption machte ihn zum Volkshelden. Der Verdacht, dass er vergiftet wurde, mobilisiert die Opposition. Die kremltreue Presse repliziert mit einer Verleumdungskampagne. Kombiniert mit Covid 19 und einer angeschlagenen Wirtschaft wächst in Russland eine explosive Mischung.

ZUSATZTEXT
2013 erzielte Nawalny bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau 27 Prozent. Nach Demonstrationen war er mehrere Wochen in Haft. Gegen Zuwanderer agitierte er mit nationalistischen Parolen. Die Annexion der Krim lehnte Nawalny jedoch ab. Sein Fonds zur Korruptionsbekämpfung ist in vielen Regionen aktiv.

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