„Die Türkei ist ein Partner der EU“, Stefan Lehne

Falter: Herr Lehne, vor einem Jahr entschieden sich die Briten für den Brexit, den Austritt aus der EU. Die Sorge war groß, die EU könnte zerfallen.  Ist diese Gefahr behoben?
Stefan Lehne: Ich glaube, dass jetzt die Gefahr besteht, das man in das andere Extrem verfällt. Mit der Wahl des französischen Präsidenten Emanuele Macrons ist eine Euphorie ausgebrochen und man nimmt an, es kann jetzt munter weitergehen im europäischen Prozess. Aber nüchtern betrachtet, ist kein einziges Problem nachhaltig gelöst worden. Die Wirtschafts- und Währungsunion bleibt fragil. Man hat zwar eine wirtschaftliche Erholung, aber keine Konvergenz der beteiligten Staaten.
Es besteht eine riesige Kluft zwischen  Süd und Nord.
Lehne: Ja und es gibt große Gegensätze, wie die Währungsunion weiter entwickelt werden soll. In der Migrationsfrage ist durch das Türkei-EU Abkommen und durch den Rückgang des Zustroms aus Libyen nach Italien eine gewissen Beruhigung eingetreten. Aber jeder weiß, dass das eine Herausforderung ist, die uns Jahrzehnte beschäftigen wird. Die EU ist weder politisch  noch institutionell darauf vorbereitet. Dann gibt es die großen Differenzen zwischen Ost und West, ob man Staaten, die vorangehen wollen, das erlauben kann oder ob alle im Verband der 27 bleiben sollen.  Die EU war selten so gespalten, wie heute.
Ungarn und Polen signalisieren, es interessiert uns nicht, was in Brüssel beschlossen wird, es interessiert uns nicht, was der Europäische Gerichtshof sagt. Wie gefährlich ist diese Haltung?
Lehne: Das ist enorm gefährlich, weil die EU letztlich nichts anderes ist, als ein Rechtssystem, das dezentralisiert umgesetzt wird. Die ganze EU beruht darauf, dass die Mitgliedsstaaten den juristischen Institutionen der Partner vertrauen. Es gibt den Europäischen Haftbefehl, wonach ein Land seine Bürger ausliefern muss, wenn die in einem anderen EU-Land angefordert sind. Es gibt die wechselseitige Anerkennung der Gerichtsurteile. Wenn dieses Vertrauen gebrochen ist, dann ist das Fundament des Binnenmarktes in Gefahr. Daher sind die Entwicklungen in Polen und Ungarn eine größere Bedrohung als der Brexit.
Wie kann die EU mit dieser Situation umgehen? Orban wird sich kaum ändern, Kaczynski auch nicht?
Lehne: Vier Fünftel aller Polen sind an der Mitgliedschaft in der EU massiv interessiert, genauso wie zwei Drittel aller Ungarn. Weder Warschau noch Budapest argumentieren in Hinblick auf einen Polexit oder Hungexit! Sie wollen unbedingt dabei bleiben. Aber sie haben eine große Distanz zur Substanz der Union und ein großes Misstrauen gegenüber den alten, größeren Mitgliedsstaaten. Die Regierungen sind gefordert, sich viel stärker einzubringen. Bis jetzt lehnen sie sich vornehm zurück und überlassen die Auseinandersetzung der Kommission, dem Europarat und den NGOs. Wenn Frau Merkel und Herr Macron direkt in Warschau und Budapest vorstellig werden, dann werden sie sicher einiges bewirken.
Zu Irritationen in Deutschland und Österreich führt, dass die EU-Kommission in der Türkeifrage den Status Quo der Beitrittsverhandlungen beibehalten will. Welche Logik steht hinter dieser Position, schließlich gibt es real ja keine Verhandlungen?
Lehne: Die Beitrittsverhandlungen sind im Koma und es geht nur mehr darum, wer den Stecker zieht. Bis vor kurzem war die weitaus überwiegende Mehrheit in der Europäischen Union der Meinung, dass wir an einem Abbruch nicht interessiert sind. Dafür gibt es ganz gute Argumente. Bei dem Referendum in der Türkei hat fast die Hälfte der Bevölkerung gegen Erdogan gestimmt.  Diese Leute hängen sehr an der europäischen Perspektive.
Wenn man diese Perspektive kappt, entmutigt man die proeuropäischen Kräfte zusätzlich.
Lehne: Die Türkei  wird unter jedem denkbaren Führer ein zentraler Partner für Europa sein. Wenn es um die Energie geht, um den Terrorismus, um die Außenpolitik, ist die Türkei als Partner unverzichtbar. Der Abbruch setzt Einstimmigkeit voraus, die ist nach wie vor nicht gegeben. Eine spätere Wiederaufnahme der Verhandlungen, wenn die einmal abgebrochen sind, würde wieder Einstimmigkeit voraussetzen. Das wäre eine Perspektive, die dann für viele Jahrzehnte gekippt wäre. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass man im Europäischen Rat zu sehr klaren Aussagen kommen wird, dass sich die Türkei von Europa entfernt. Dass keine Perspektive für einen Wiederbeginn der Verhandlungen in einem praktischen Sinn besteht. Dass man aber von einem völligen Abbruch absehen wird.
Deutschland und Frankreich wollen nach den deutschen Bundestagswahlen einen Vorschlag machen, wie es weitergeht. Präsident Macron tritt für ein Kerneuropa ein und Merkel signalisiert, dass sie grundsätzlich mitmachen wird. Wird es dazu kommen?
Lehne: Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist für europäische Fortschritte unverzichtbar. Das hat in den letzten Jahren sehr schlecht funktioniert. Die Wahl Macrons mit einer sehr proeuropäischen Botschaft ist ein enorm positives Zeichen. Wie sehr die Deutschen darauf eingehen können, wird stark davon abhängen, wie die nächste Koalition in Berlin aussieht. Eine Koalition der CDU mit der FDP würde die Möglichkeiten viel mehr einschränken, als eine weitere Große Koalition oder eine Koalition mit den Grünen. Dazu kommt, dass wir nicht mehr in den Zeiten von Kohl und Mitterand leben. Wenn sich Deutsche und Franzosen einigen, ist die Sache noch nicht gelaufen. Man muss die Zustimmung einer größeren Gruppe finden. Auch die schwierigen Partner wie Polen und Ungarn müssen in ein solches Konzept eingebunden werden.
Wie steht es um die Eurozone?
Lehne: Auch sie muss weiterentwickelt werden. Aber das ist ein sehr großer und nicht fürchterlich harter Kern. Interessant bei der Rede Jean-Claude Junckers war, dass er sehr stark für den Beitritt der Nicht-Eurostaaten zum Euro plädiert, wodurch das Problem der Spaltung abgewendet würde. Aber je tiefer die Eurozone ist, je anspruchsvoller die Architektur ist, desto schwerer werden Beitritte. Dieses Juncker-Konzept, dass  alle EU-Staaten dem Euro beitreten werden,  sehe ich für die nächsten zehn Jahre nicht.

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