China, die Pandemie und wir

Es sind Szenen, von denen die heimische Wirtschaft nur träumen kann. Touristen, die berühmte Berge bestaunen und sich in Scharen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit leiten lassen. In bester Stimmung, dicht gedrängt, die Selfies manchmal mit und manchmal ohne Maske. Aber ohne erkennbare Angst vor Covid 19. In China gehört die sogenannte Goldene Woche rund um den Nationalfeiertag Anfang Oktober zu den wichtigsten Reisetagen des Jahres. Die Zentralregierung in Peking liebt in Zahlen gegossene Superlative. 637 Millionen Urlaubsreisende waren unterwegs gewesen. Das ist etwas weniger als im vergangenen Jahr, aber ein Zeichen, dass die zweite Welle der Covid 19-Infektion, die in Europa und Amerika wütet, im Reich der Mitte bisher verhindert werden konnte.
Auf ein Dutzend Ansteckungen in einem Spital der Küstenstadt Qingdao reagiert die Führung nicht ganz so radikal wie beim Lockdown im Frühjahr, aber nicht weniger entschlossen. Innerhalb von Tagen werden Verantwortliche gefeuert. Die gesamte Bevölkerung der 9-Millionenstadt soll getestet werden, damit die Einschränkungen für Reisende aus der Stadt im Rest des Landes zeitlich begrenzt bleiben können. Ähnlich war man bei einem Ausbruch um einen Großhandelsmarkt in der Hauptstadt Peking im Sommer verfahren. Der gesamte Bezirk Fengtai wurde abgesperrt, die Menschen durften ihre Wohnungen nicht verlassen. Wenige Wochen später war die Gefahr gebannt.
Nach dem Ausbruch in der Stadt Wuhan Ende 2019 bis Mitte Oktober 2020 sind nach offiziellen Angaben in der Volksrepublik 4746 Menschen an Covid 19 gestorben. Die chinesischen Behörden doktern gerne mit der Statistik. Es gibt riesige Unterschiede, wie Corona-Tote gezählt werden. Aber die Realität ist nicht zu leugnen. Während in Europa und den USA die Todeszahlen weit über 200 000 liegen und die Weltgesundheitsorganisation von mehr als einer Million Toten weltweit ausgeht, sind in China viel weniger Opfer zu beklagen. Die Volksrepublik war in der Abwehr der Pandemie erfolgreich.
Die Wirtschaftszahlen zeigen in die gleiche Richtung. Die chinesische Betriebe haben sich vom brutalen Lockdown des Frühjahrs erholt. 2020 wird ein Wachstum von ein bis zwei Prozent erwartet, für 2021 glaubt man an einen Anstieg um 9,5 Prozent. Das rapide Aufwärtsentwicklung der letzten Jahrzehnte hat hunderte Millionen aus der Armut befreit. Die Menschen haben erlebt, dass Ihnen die Kommunistische Partei Schritt für Schritt jedes Jahr ein besseres Leben beschert. Die Stagnation der vergangenen Monate durch den Virus hat dieses Vertrauen auf die Probe gestellt. Aber der frappierende Kontrast zu den zweistelligen Einbrüchen in den westlichen Industriestaaten, wo die Menschen viel härter getroffen sind als in China, ist schwer zu widerlegen.
Vor einem knappen Jahr haben die Behörde der Stadt Wuhan noch geglaubt, dass sie die Krankheit mit Einschüchterungen, Zensur und falschen Informationen vertuschen können. Der Augenarzt Li Wenliang wurde zur Polizei zitiert, weil er in den Sozialen Medien vor dem neuen Virus warnte, an dem er schließlich gestorben ist. Aber seither setzt die Staatsmacht alle verfügbaren Mittel gegen die Ausbreitung ein. Offenbar mit Erfolg.
China bekämpft das Virus mit Hilfe der Mechanismen des Überwachungsstaates, der Teil des politischen Systems ist. In der streng kontrollierten Öffentlichkeit des Landes kommt eine ordentliche Dosis Nationalismus dazu. Das Corona-Chaos in den USA und in Europa gilt als Beweis für die Überlegenheit des Einparteiensystems und die Unfehlbarkeit von Präsident Xi Jinping.
Corona verschärft die Auseinandersetzung zwischen dem autoritären Modell der Volksrepublik und den liberalen Demokratien. Aber es wäre fatal, wenn deshalb die chinesischen Erfahrungen in der Pandemie in Bausch und Bogen verworfen würden. Nicht alle Techniken, die in China gegen die Pandemie erfolgreich sind, haben mit der Alleinherrschaft der KP zu tun. Dass die Polizei im Lockdown die Eingangstore zu Wohnhäusern zumauert, wie das in Wuhan passiert ist, ist Willkür der Obrigkeit. In einer Gesellschaft, in der manchen sogar simple Masken als Tyrannei erscheinen, sind Kameras vor den Wohnungstüren, wie in Peking, mit der die Behörden die Quarantäne durchsetzen, unvorstellbar. Auf die Kontrollfunktion von Handyapps, gegen die in Europa Datenschützer mobil machen, setzt dagegen auch das demokratische Südkorea.
Die Pandemie hat 190 Staaten und Territorien erfasst. Die Weltgesundheitsorganisation zählt Mitte Oktober 1,09 Millionen Todesfälle und 38 Millionen Infizierten. Eine Bedrohung für die Weltbevölkerung, der eigentlich globales Handeln der Zusammenarbeit der Nationen erforderlich machen würde. Aber das Gegenteil passiert. Donald Trump spricht vom China-Virus und unterstellt, dass es ohne das anfängliche Desaster zur Pandemie nie gekommen wäre. Peking verhindert eine internationale Untersuchung des ersten Ausbruchs in Wuhan. Die politischen Animositäten verhindern einen ernsthaften Erfahrungsaustausch.
Erinnern wir uns noch an den Jahresanfang, als europäische Virologen sich im Fernsehen über die Masken tragenden Asiaten mokiert haben, weil doch der Gesichtsschutz angeblich völlig wirkungslos sei? Die herablassende Geste in Richtung China ist seltener geworden. Was genau den Erfolg beim Umgang mit der Pandemie in Asien ausmacht, bleibt in den westlichen Überlegungen trotzdem ausgeklammert. Dabei ist es nicht nur gesundheitspolitisch kontraproduktiv, wenn man in einer grenzüberschreitenden Pandemie vor allem das eigene Land im Blick hat. Die westlichen Demokratien werden auch in der Auseinandersetzung der politischen Systeme ins Hintertreffen geraten, wenn ihnen zum chinesischen Erfolg gegen die Pandemie nur einfällt, dass man mit Methoden einer Diktatur nichts zu tun haben will.

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