Brexit und wir, Falter, 22.6.2016

Ob Großbritannien für Austritt, Brexit, oder Verbleib, Remain, in der Europäischen Union votiert, tangiert nicht nur Engländer, Waliser, Schotten und Iren, sondern alle Bürger der EU. London ist die einzige wirklich globale Metropole unseres Kontinents. Über die englische Sprache kommuniziert die halbe Welt. Das Vereinigte Königreich verfügt neben Frankreich über die einzige militärische Streitmacht der EU, die in den krisengeschüttelten Nachbarregionen ernst genommen wird. Die Londoner City spielt in der obersten Liga der Finanzwelt, so wie die Wall Street, Singapur oder Hongkong.Mit ihrem Votum für oder gegen nationalen Egoismus entscheiden die Briten ob  ganz  Europa ernst genommen wird in der Welt.

Trotzdem durfte kein Politiker vom Kontinent an der heißen Auseinandersetzung teilnehmen. London ließ in den Hauptstädten deponieren, dass fremde Wortmeldungen nicht erwünscht sind. Gar Wahlkampfauftritte europäischer Politiker auf der Insel würden nur dem Brexit-Lager helfen. Merkel, Juncker und selbst Francois Hollande ließen keinen Zweifel, dass sie keine Trennung wünschen. Alle haben in mühsamen Verhandlungen jene Sonderregelungen beschlossen, die David Cameron seine Pro-EU-Argumentation erleichtern sollten. Kein EU-Politiker, sondern Barack Obama, bekam von Downing Street grünes Licht für ein breites, proeuropäisches Plädoyer. „Divided we fall“ urteilt der britische Economist. Gemeinsam vorgebracht durfte diese Einsicht aber nicht werden.

Die Dominanz der nationalen Öffentlichkeiten gehörte immer schon zu den großen Hindernissen der Integration. Britische Regierungen jeder Couleur haben die Barrieren verstärkt. Als bei den letzten Europawahlen gesamteuropäische Spitzenkandidaten zur Wahl standen, verbat sich die Labour Party jeden Auftritt des Sozialdemokraten Martin Schulz auf der Insel. Labour-Premier Gordon Brown schickte seinerzeit die unbekannte Cathy Ashton nach Brüssel, weil eine linke Außenpolitikrepräsentantin gefragt war und Werner Faymann seinen Vorgänger Gusenbauer nicht nominieren wollte. Ashton ist inzwischen in der politischen Versenkung verschwunden.

Allerdings sind die Briten mit der Abschottung vom europäischen Diskussionsprozess nicht alleine. Eifersüchtig wachen alle Regierungschefs darüber, dass der EU-Kommissionspräsident als gemeinsamer Vertreter der Union nicht allzu präsent ist.  Paradoxerweise holen ausgerechnet die rechtsradikalen Parteien europäisch-medial auf. Marine Le Pen weiß, dass sie in Frankreich nur ernst genommen wird, wenn sie nicht nur als Zerstörerin Europas auftritt. Sie muss so tun, als ob es eine Alternative zur Integration gäbe, die nicht zu Nationalismus und Krieg führt. Daher steckt die Nationale Front ihre Fühler nach Österreich, Italien und die Niederlande aus. Großbritanniens EU-Gegner Nigel Farage verzichtet auf dieses Feigenblatt. Seine UKIP-Partei kassiert nur ungeniert die Gelder, die mit dem Fraktionsstatus im Europaparlament verbunden sind.

Egal wie das Referendum ausgeht: die Europäer werden die Konsequenzen spüren. Ein britischer Abgang kann zur Existenzkrise der EU werden. Der Ruf nach einem Austritt wird auch in anderen Staaten stärker werden, verbrämt als Forderung nach demokratischen Volksentscheiden. Gewinnt Remain, ist das ein gehöriger Dämpfer für Le Pen&Strache Co. Wenn sogar die skeptischen Briten gegen einen nationalen Alleingang votieren, wäre ein Neustart für die EU möglich. Aber die Versuchung wird groß sein, die britischen Sonderregeln auch in anderen Staaten anzuwenden. Kleinliche Bösartigkeiten gegen europäische Mitbürger, wie die Herabsetzung von Kindergeld auf die Lebenshaltungskosten eines ärmeren Herkunftslandes, werden bereits eifrig erwogen.

Wolfgang Schäuble, traditionell ein Befürworter von mehr Europa, glaubt nicht, dass ein Integrationsschub die richtige Antwort ist. Ratspräsident Donald Tusk empfiehlt, wohl auch unter dem Eindruck der nationalistischen Regression in Polen, die große Idee eines Vereinigten Europas als Illusion ad acta zu legen. Allerdings zeigt sich bei jeder neuen Krise, dass die Nationalstaaten überfordert sind. Krieg, Chaos und Fluchtbewegungen in den Nachbarregionen belegen die katastrophalen Schwächen des lockeren Zusammenhalts in Brüssel. Die nächsten finanzpolitischen Erschütterungen werden die Lücken des Euro-Systems neuerlich ins Zentrum stellen. An der Notwendigkeit der größeren Schlagkraft eines Vereinten Europas wird sich nichts ändern, egal wie sich Großbritannien positioniert.